Gian Maria Calonder

Endstation Engadin


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vergessen, eine zu kaufen«, gestand Capaul. »Ich habe den wartenden Zug gesehen und bin gerannt. Gibt das eine Buße?«

      Die Zugchefin schüttelte den Kopf: »Die RhB ist ja auch nicht pannenfrei. Aber ich muss einen Zuschlag von zehn Franken kassieren. Wohin fahren Sie?«

      »Nach Bergün.«

      Das machte hin und zurück vierundzwanzig Franken.

      Während Capaul nach dem Geld kramte, fragte der grauäugige Jäger, der schräg gegenüber Platz genommen hatte: »Wo lag denn das Tier?«

      Ehe Frau Hess antworten konnte, lachte Capaul: »Was für eine merkwürdige Frage. Will man nicht eher wissen, welches Tier? Vielleicht war es ja ein Bär.« Er meinte gelesen zu haben, dass im Engadin tatsächlich einmal ein Bär unter den Zug geraten war.

      Die Miene des Jägers verriet eine gewisse Ungeduld. »Wir haben Hochwildjagd«, erklärte er. »Rehe und Gämsen sind zu leicht, ein Steinbock kommt nicht so weit runter. Es kann nur ein Hirsch gewesen sein, der wiegt schnell einmal zwei Doppelzentner. Die schafft keiner so leicht vom Gleis, schon gar nicht, wenn der Hirsch inzwischen festgefroren ist. Die Nächte in der Val Bever sind kalt. Ich will wissen, welcher Idiot ihn geschossen hat. Jeder von uns hat sein Revier. Und man schießt kein Tier, das man nicht bergen kann.«

      Inzwischen war der Zug langsamer gefahren, nun hielt er an. Die Zugchefin warf einen Blick hinaus, murmelte eine Entschuldigung und eilte in den vorderen Zugteil.

      »Spinas«, stellte einer aus der RhB-Truppe fest, »in Spinas hält sonst erst der 07:16 ab Samedan.«

      Überall wurden die Fenster heruntergezogen, die Männer beugten sich hinaus, reckten die Hälse, diskutierten.

      »Die Strecke ist geschlossen.«

      »Ich sehe kein Signal.«

      »Da, bei der Tunnelpforte. Beim Förderband. Das Gelbe ist ein Förderband.«

      »Danke, so klug bin ich auch, Hermi. Schließlich bauen sie den Tunnel.«

      »Nenn mich nicht Hermi.«

      »Wir verpassen die Baustellenführung.«

      »Was heißt ›verpassen‹? Wen will er denn führen, wenn wir nicht kommen? Das ist ein Exklusivanlass, der wird schon warten. Wer führt überhaupt, der Furrer?«

      »Ist das dort das Klohäuschen? In Spinas soll das letzte Plumpsklo der RhB stehen.«

      »Ich wüsste lieber, warum das Signal auf Rot steht. Hatte sie nicht gesagt, die Strecke ist freigegeben?«

      »Offenbar liegt das Tier im Tunnel.«

      »Ja, aber warum haben sie die Strecke freigegeben, und jetzt ist sie wieder zu?«

      »Ruf doch den Furrer an.«

      »Wozu? Der wird auch gehört haben, dass die Strecke zu ist.«

      »Ja, aber vielleicht weiß er, wieso.«

      »Jetzt warte doch ab, die Dame wird es uns schon sagen.«

      »Merde alors, il fait froid, fermes les fenêtres. Jamais vu un train en arrêt?«

      Capaul und der Jäger waren sitzen geblieben. Ein zweiter Jäger weiter vorn beugte sich in den Mittelgang vor.

      »Uei«, rief er leise. »Adam.«

      »Che?«, fragte der Grauäugige, ohne sich zu rühren.

      »Eau nu craj cha que giaja inavaunt. Quecò nu d’eira üngüna bes-cha.«

      »Quelo d’heja eir güsta m’impisso.«

      Adam stand auf, schulterte den Rucksack, ohne dabei das Gewehr loszulassen, und verließ den Zug. Auch der andere Jäger kam den Gang entlang. Er war einiges jünger als Adam, doch Capaul sah, dass er die gleichen steingrauen Augen hatte. Auch er stieg aus, darauf sah Capaul draußen den dritten Jäger das Perron entlanggehen. Er hätte gern gewusst, was sie gesprochen hatten.

      Dann kam Zugchefin Hess zurück: »Es geht nicht weiter«, erklärte sie. »Entweder Sie steigen hier aus und warten auf den 07:16, oder Sie fahren mit uns zurück nach Samedan.«

      Gleich wurde sie von den RhB-Freunden belagert, aber freundlich schob sie sie beiseite und bahnte sich einen Weg zu Capaul. »Ich habe Ihnen noch gar kein Billett ausgestellt.«

      »Glauben Sie denn, der 07:16 fährt nach Bergün?«

      »Ich habe keinen Schimmer«, erklärte sie offen.

      »Die Jäger gehen zu Fuß, glaube ich.«

      »Aber die wollen auch nicht nach Bergün, die jagen da oben irgendwo.«

      »Ich muss auch nicht unbedingt nach Bergün, ich will nur den Tag genießen.«

      »Man kann in der Val Bever sehr schön spazieren gehen«, sagte Janine Hess und gab ihm sein Geld zurück. Dann wandte sie sich den anderen zu: »Bitte herhören. Ich habe im Gasthof Spinas angerufen, der Wirt öffnet früher für Sie. Sie können dort Kaffee trinken und werden informiert, sobald es weitergeht.«

      »Was um Himmels willen ist das für ein Tier?«

      »Wer sagt denn, dass es ein Tier ist?«

      »Na, sie hat es gesagt.«

      »Ruf den Furrer an.«

      In großem Gedränge verließen alle den Zug. Capaul knöpfte die Jacke zu, draußen war es empfindlich kühl. Während die anderen auf den Gasthof zusteuerten, blieb er stehen, er hatte keine Lust auf Gesellschaft. Die Jäger offenbar auch nicht. Der dritte stand bei der Bahnhofsrampe, löste beide Schnürsenkel und knotete sie neu. Es sah nicht nach Notwendigkeit aus, eher nach Gewohnheit, oder mehr noch, als wollte er Zeit schinden. Adam betrat gerade die Brücke, die über einen schmalen Bach führte. Der Junge war bereits bei den ersten Bäumen, mit fliegenden Schritten stieg er den Berg empor. Der dritte wartete, bis auch Adam den Hang erreicht hatte, bevor er sich ebenfalls auf den Weg machte. Capaul war ziemlich sicher, dass es sich um einen Vater mit seinen Söhnen handelte.

      Auch Capaul band seine Halbschuhe enger, denn er rechnete mit schwierigem Terrain. Dann ging er in dieselbe Richtung wie die Jäger. Der Weg führte an Baracken, Baumaschinen und Schutthalden vorbei. Ein Schild informierte über den Neubau des Albulatunnels, und an einem Bauschuppen hing eine Leuchttafel: Arbeitsgemeinschaft Neubau Albulatunnel II. Diese Baustelle ist unfallfrei seit 513 Tagen.

      Hoch oben flog ein Helikopter, zu hoch, als dass man erkennen konnte, ob es die Rega war. Doch Capaul beschloss endlich, seinen Kollegen Jon Luca anzurufen.

      »Hast du Dienst?«, fragte er. »Ich bin im Val Bever. Was ist im Tunnel passiert? Ich höre einen Helikopter, braucht ihr mich?«

      »Nein«, sagte Jon Luca verschlafen. »Zweimal nein. Nein, ich bin nicht im Dienst. Und nein, wir brauchen dich nicht. Ich habe Piket. Wäre etwas, hätte ich einen Anruf bekommen. Keine Ahnung, ob im Albulatunnel etwas ist.«

      »Es hieß, ein totes Tier ist auf der Strecke.«

      »Na also«, sagte Jon Luca nur. »Darf ich jetzt weiterschlafen? Und wieso bist du nicht im Bett? Hat Gisler dir nicht Hausarrest gegeben?«

      »Hausarrest? Nein, bestimmt nicht, das war nur ein guter Rat«, behauptete Capaul und legte auf.

      Kurz war die gute Laune wie weggeblasen. Doch dann wehte der Duft von Lärchen und feuchter Erde herbei, ein leises, zauberhaftes Rauschen erhob sich, obwohl Capaul nur Lärchen und Nadelbäume sah – er wusste gar nicht, dass die so rauschen konnten. Und dann entdeckte er oben am Berg, an einer Stelle, die fast überschüssig war, einen Raubvogel. Es war kein Bussard, sondern etwas Größeres, ein Bartgeier oder Adler. Inzwischen reichte die Sonne bis dorthin.

      Capaul betrat das Brücklein und spuckte zum Spaß in den Bach, dann begann er wieder zu pfeifen: Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an. Als er kurz nach Spinas zurückblickte, sprang am Bauschuppen die Leuchttafel gerade zurück auf null.