Gian Maria Calonder

Endstation Engadin


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sie: »Danke, an Geld hatte ich gar nicht gedacht.«

      »Sonst kann ich auch Holz hacken oder abwaschen. Ich bin ein guter Abwäscher.«

      Sie lachte leise, bestimmt hatte sie nicht mehr als einen Teller, etwas Besteck und diese Tasse. »Holz nachlegen kannst du. Nur ein Scheit, da drüben liegen welche.«

      Er holte eines und schob es ins Rohr, was nicht ganz einfach war, weil er noch immer die Tasse hielt. Danach war ihm schwummrig zumute, und er setzte sich. Sein Kopf war heiß. »Und nun?«, fragte er mit belegter Stimme.

      »Ja, wenn ich das wüsste«, sagte sie verspielt. »Irgendwie werde ich mir das Geld verdienen müssen.«

      Die Bemerkung hatte nichts Obszönes, nicht im Geringsten, trotzdem fürchtete Capaul um den heiligen Moment. »Oh, ich bin schon reich beschenkt, ich erwarte gar nichts«, versicherte er eilig.

      Diesmal lachte sie laut. »Umso besser. Dann verrate mir, Massimo, was dich so früh in die Val Bever treibt.«

      Er stutzte. »Ich dachte immer, es heißt ›das Val Bever‹.«

      »Nein, nein«, versicherte sie. »La val, il piz. Das Tal ist weiblich, der Gipfel männlich, das Romanische ist sehr direkt. Also, was treibt dich her?«

      »Der Zufall.«

      »Es gibt keinen Zufall.«

      »Ja, was dann, die Vorsehung? Vielleicht ein Fluch?« Er lachte. In seinem Kopf herrschte eine ganz unbekannte Leichtigkeit, Worte und Gedanken schwebten schillernd wie Seifenblasen. »Jedenfalls blieb der Zug stehen, der Tunnel ist gesperrt.«

      »Ach so.« Sie sagte es, als erkläre sich daraus so einiges, doch Capaul hatte den nächsten Satz schon auf den Lippen und war zu benommen, um zu reagieren.

      »Auf der Strecke lag nämlich ein totes Tier«, erklärte er, »ein Hirsch vermutlich.« Wieder lachte er.

      Verwundert fragte sie: »Massimo, was gibt es da zu lachen?«

      »Ja, eigentlich gar nichts«, gab er zu. »Der arme Hirsch.« Trotzdem lachte er weiter.

      Sie beugte sich leicht vor und sagte eindringlich: »Zum Leben gibt es zwei Wege. Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg.«

      »Genial in welchem Sinn?«, fragte Capaul heiter.

      Aber offenbar war die Lektion damit beendet, denn sie stand auf und öffnete die Tür.

      »Zeit, mich zu verabschieden.« Er erhob sich ebenfalls und stellte die Tasse auf die Kiste.

      »Ich wollte nur lüften, die Karbidlampe stinkt.« Aber sie hielt ihn nicht zurück, sondern folgte ihm nach draußen.

      »Darf ich wiederkommen?«, fragte er. Bei Tageslicht war ihr Kleid nicht weiß, es war aus ungefärbtem Leinen. Und sie hatte auch auf der Stirn spinnwebfeine, aber messerscharfe Falten. Er schätzte sie auf etwa gut vierzig.

      »Falls du ein zweites Mal herfindest.«

      Während er sich an den Abstieg machte, blieb sie draußen stehen. Die Sonne reichte inzwischen bis auf den Talboden, der Raureif war geschmolzen, auf der Erde tanzten Lichtflecken. Capaul drehte sich nochmals um, er wollte winken – wie ein Schulbub, der sich schwertut, von daheim loszuziehen. Allerdings sah sie ihm nicht nach, sondern talaufwärts, zum Albula hin.

      Alles war wie verwandelt, das Licht so golden, das Grün so satt. Capaul wartete nur darauf, hinter der nächsten Wegbiegung einem Einhorn oder Zwergen zu begegnen. So wunderte er sich auch nicht, als er das Rumpeln, Trappeln und Gebimmel einer Pferdekutsche hörte. Darin saß eine Gruppe angeheiterter RhB-Freunde. Capaul machte Platz, um sie vorbeizulassen, doch jener, der neben dem Kutscher auf dem Bock saß, vielleicht eine Art Anführer, bat den Kutscher zu halten: »Wir hätten noch Platz. Zweien von uns ist schlecht geworden, die laufen lieber.«

      »Ja dann«, sagte Capaul und stieg auf, denn der Hunger plagte ihn inzwischen heftig, und auch der Marsch strengte an.

      »Ist der Tunnel noch immer gesperrt?«, schrie er gegen den Fahrlärm an, als die Pferde weitertrabten.

      Die anderen winkten ab. »Es war nur zu spät für unsere Sonderführung. Und nach Preda fahren wir dann sowieso zum Durchstich.«

      »Und was für ein Tier war es nun?«

      »Gar keines, ein Mensch. Der Lokführer konnte nur erst nichts erkennen. Lokomotivscheinwerfer strahlen im 45-Grad-Winkel. Wenn etwas zu nah am Führerstand ist, sieht man nichts. Und vielleicht traute er sich nicht auszusteigen. Jedenfalls musste die Polizei anrücken, und das hat natürlich gedauert.«

      »Und geputzt musste werden«, fügte ein anderer hinzu. »Stell dir vor, es hält ein Zug im Tunnel, und an den Wänden klebt noch die ganze Schweinerei.«

      »Es heißt, es hat ihn regelrecht gehäutet.«

      »Wobei wir es gerade davon hatten, ob es wirklich der Zug war und nicht eher das Tuntschi.«

      »Welches Tuntschi?«, fragte Capaul, dem nun auch leicht übel war.

      »Sag nur, du kennst das Sennentuntschi nicht!«

      Capaul konnte nicht antworten, weil jetzt alle durcheinanderredeten.

      »Die Jäger würden sagen, er war abgebalgt.«

      »Willst du behaupten, den hat einer erlegt?«

      »Ihr redet alle Schwachsinn. Gerätst du in einem so engen Tunnel wie dem Albula zwischen Zug und Tunnelwand, raspelt es dir erst die Kleider ab und dann die Haut. Vor ein paar Jahren sind japanische Teenager durch den Brienzer Tunnel spaziert. Sie hatten den Wanderweg verloren. Und plötzlich war da nur noch eine Felswand, und eben der Eisenbahntunnel. Die wurden auch geraspelt.«

      »Ich wäre geschwommen.«

      »Wann? Wieso?«

      »In Brienz. Die Zugstrecke führt direkt am See entlang. Und ich kenne keinen schöneren See.«

      »Und der Silsersee? Der Silvaplaner?«

      »Der schönste ist der Lai da Palpuogna, das ist Fakt, darüber haben die Schweizer abgestimmt.«

      »Wie soll der heißen?«

      »Lai da Palpuogna, gleich oberhalb von Preda.«

      »Wer putzt da eigentlich?«

      »In Preda?«

      »Im Tunnel. Nach so einem Unfall.«

      »Die RhB, denke ich.«

      »Nein, jedenfalls haben wir so was nicht gemacht, als ich noch dabei war. Dafür gibt es Tatortreiniger.«

      »Tatortreiniger! In Zürich vielleicht, aber hier draußen …«

      »In Zürich wirft sich keiner vor den Zug. Wenn schon, dann …«

      »Aber klar doch, von der Hardbrücke.«

      »Wenn schon, dann …«

      »Überhaupt ist es eine verdammte Rücksichtslosigkeit, sich auf die Art und Weise umzubringen. Egal, wer da geputzt hat, solche Bilder brennen sich ein. Und zwar allen, dem Lokführer, dem Zugchef, der Putztruppe. Davon träumst du noch Jahre danach.«

      »Um sich umzubringen, geht doch keiner in den Tunnel.«

      »Die lange Gerade vor Zug-Schutzengel ist beliebt.«

      »Was ›Schutzengel‹?«

      »Zug-Schutzengel, das ist ein Vorort bei Zug, also bei der Stadt Zug. Da saß ich schon zweimal im Zug, also in der Eisenbahn, und er fuhr einfach nicht weiter. Viertelstunde, halbe Stunde. Und dann die Durchsage: Personenunfall.«

      »Selbstmord, Schutzengel … Wie passt das zusammen?«

      »Ist doch egal, vielleicht ist es Zufall, und es ist einfach eine Neunzigerstrecke.«

      »Es gibt keine Zufälle«,