Gian Maria Calonder

Endstation Engadin


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vor den Zug. Weil dort die Klinik ist.«

      »Damit sie sich gleich wieder zusammenflicken lassen können?«

      »Nicht so eine Klinik, Idiot, die Psychiatrie.«

      »Das war einmal, jetzt kommt man nicht mehr so leicht aufs Trassee, sie haben einen Zaun gebaut.«

      »Wie auch immer, da müsste einer schon sehr, sehr bekloppt sein, um extra nach Preda zu fahren und in den Tunnel zu schleichen, um sich umzubringen.«

      Unverhofft erhielt Capaul von hinten einen Schlag auf die Schulter und zuckte zusammen. Es war der auf dem Bock. »Wir werden nach La Punt kutschiert, weil wir dort einquartiert sind. Willst du vorher raus?«

      »Nein, nicht nötig«, sagte Capaul, sprang dann aber doch schon in Bever ab. Er aß am Bahnhof einen Appenzeller Biber aus dem Automaten und rief nochmals Jon Luca an. Der drückte den Anruf allerdings weg.

      III

      Als Capaul zum Wassermann kam, stellte Bernhild gerade die Wirtstafel vor die Tür. Darauf stand: Ab 12 Uhr geöffnet. Sie war noch immer im Bademantel.

      »Sieh mich an«, stöhnte sie, »seit sechs Uhr ein Kommen und Gehen, eben sind die Letzten raus. Nicht einmal das Haar richten konnte ich.«

      Er sah keinen Unterschied zu sonst, und weil ihm nichts zu sagen einfiel, legte er freundlich die Hand auf ihren Arm, solange sie den Schlüssel drehte. Seufzend lehnte sie sich an ihn, und plötzlich wurde sie ganz weich.

      »Ich sterbe vor Hunger«, stellte Capaul fest. »Ist die Küche zu?«

      Bernhild bohrte in komischer Verzweiflung die Stirn in seine Schulter, er sah den fast kahlen Haaransatz und roch Schweiß und sauren Kaffeedunst. »Ich habe noch Reste einer Pasta bolognese, die stelle ich dir in die Mikrowelle. Aber dann gehe ich hoch.«

      Er folgte ihr in die Küche. »Was war denn los?«

      »Ein Toter im Tunnel, zwei Stunden lang war die Strecke nach Bergün blockiert. Erst kamen die Rangierarbeiter, die nicht weitermachen konnten, dann drei oder vier gestrandete Reisegruppen. Und zuletzt Fluri, der Lokführer, der die Leiche gefunden hat. Es brauchte drei Kaffee-Schnaps, bis er überhaupt anfangen konnte zu erzählen. Ich habe sie ihm mit einem Trinkhalm serviert, weil er so gezittert hat. Bediene du mal drei Gruppen und spiele gleichzeitig Kummermutter.«

      »Armer Fluri«, sagte Capaul, obwohl er ihn nicht kannte. »Ich war ja auch im Zug. Also im blockierten.«

      »Ja, stimmt«, sagte sie und trug ihm den Teller in die Gaststube. »Streukäse ist auf dem Tisch.«

      »Danach bin ich das Val – die Val Bever hinabgewandert. Dieser Märchenweg ist ja toll.«

      »Die Senda da parevlas, mit Skulpturen unter anderem von Not Vital und Geschichten von Dichterinnen des Tals wie Milli Weber, die mit ihren Zeichnungen von Blumenkindern Berühmtheit erlangt hat«, sagte sie mechanisch auf, während sie noch eben die Krümel auf dem Tisch mit einem nassen Lappen verschob.

      Capaul setzte sich und verschlang die Nudeln. »Mag sein, aber da ist viel mehr«, versicherte er kauend. »Vor allem diese Märchenerzählerin. Oder vielleicht ist sie auch eine Fee oder Hexe. Das wollte ich eben von dir wissen.«

      »Nein, die Senda da parevlas, das sind sechs Skulpturen und sechs oder sieben Märchen, die man dort auf Tafeln lesen kann«, sagte sie und ging schon zur Treppe.

      »Ich schwöre dir, da war diese blonde Frau, sie haust in einem angemalten Wägelchen, und wenn man mit ihr redet, wird einem ganz anders. Und ein Hotzenplotz, und …«

      Sie machte kehrt. »Moment, was heißt, dir wurde ›anders‹?«, fragte sie gereizt. »Du plauderst mit dieser Frau, und dir wird ›anders‹?«

      »Oh, das war alles andere als Geplauder. Sie sagte Dinge wie …« Er versuchte sich zu erinnern. »Ich kriege es jetzt nicht mehr wörtlich hin, aber es war etwas in die Richtung, dass der Weg zum Leben über den Tod führt.«

      »Und das macht dich schwach? Solche Sprüche liefere ich dir im Dutzend.«

      »Ach, du bist ordinär! Es war nicht nur das, sie hat auch eine Stimme, die … Ich weiß nicht, irgendwie war der ganze Moment heilig. Ja, genau, heilig.«

      »Habt ihr gebumst?«

      »Ach, jetzt hör aber auf. Nein! Heilig, sage ich, heilig!«

      »Glaubst du etwa, Heilige bumsen nicht? Bei der wärst du jedenfalls nicht der Erste und bestimmt nicht der Letzte. Ihren wirklichen Namen kenne ich nicht, wir nennen sie Fräulein Nietzsche. Sie ist so eine Tingeltangel-Künstlerin, klappert jeden Sommer unsere Täler ab. Und jetzt gehe ich endlich duschen.«

      »Nietzsche«, wiederholte er verwundert, »ist sie verwandt mit dem Nietzsche?«

      Bernhild war am Ende ihrer Geduld. »Ich sagte dir doch, wir nennen sie nur so. Capaul, die hat dir ins Hirn geschissen. Hast du das Geld?«

      Er fasste sich an die Stirn. »Stimmt, das wollte ich noch holen.«

      »Ja, dann los. Und danach such dir eine andere Bleibe.«

      »Wieso das jetzt plötzlich?«

      »Darum. Peter will es so. Er ist eifersüchtig.«

      »Aber ich habe ihm doch damals alles erklärt. Ich rufe ihn an, das lässt sich ganz schnell klären.«

      »Ich muss das Zimmer renovieren.«

      »Dann nehme ich das andere.«

      »Ich muss beide renovieren.«

      »Ich helfe dir. Wir renovieren das eine, dann ziehe ich dort ein, und wir renovieren das andere.«

      »Heute Nacht darfst du meinetwegen noch bleiben«, sagte sie und stieg die Treppe hoch.

      »Kriege ich keinen Kaffee?«

      Es kam aber keine Antwort mehr.

      Während er die letzten Nudeln aß und danach das Geschirr abtrug, dachte er an Fräulein Nietzsche, und sofort verflog sein Ärger. Am liebsten wäre er gleich wieder in die Val Bever spaziert, doch erst wollte er mit Jon Luca sprechen. Der nahm noch immer nicht ab, also beschloss er, ihn zu besuchen. Die Wohnung war nicht schwer zu finden, er wohnte im Haus hinter dem Parkplatz, auf dem sein Auto stand.

      Jon Luca kam in Unterhose an die Tür. »Was willst du? Das ist nicht unser Fall, habe ich dir doch gesagt. Außerdem ist schon alles geklärt, ich habe mit Tiefencastel telefoniert.«

      »Entschuldige, ich wollte dich nur auf einen Kaffee einladen.«

      Jon Luca stutzte, dann sagte er: »Komm rein, wir trinken hier einen.«

      Die Küche war so winzig wie der Flur, ein handtuchschmaler Schlauch. Kaum hatten sie sie betreten, huschte vor der Tür jemand vorbei. Capaul sah nur ein wehendes Tuch und hörte eine Frauenstimme: »Ich gehe dann mal ins Bad.«

      Jon Luca knipste die Kaffeemaschine an und zog einen Pullover über, dann wies er auf einen Blechtisch am Fensterchen, beides kaum größer als ein Blatt Papier, und forderte Capaul auf: »Setz dich.«

      Capaul quetschte sich hinter den Tisch, setzte sich auf die Heizung und sah zu, wie Jon Luca Kaffee machte.

      »Ich war heute in der Val Bever«, setzte er an.

      »Ich weiß, du hast mich ja angerufen. Es war einer der Mineure, die von Preda her den neuen Tunnel bauen. Vermutlich war Alkohol im Spiel. Wer von den Arbeitern am Wochenende nicht heimkann, gönnt sich halt zwischendurch einen Schnaps. Danach hat er wohl den Weg verfehlt, fand nicht mehr aus dem Tunnel und ist betrunken eingeschlafen. Dumm gelaufen, würde ich sagen.«

      Er schob Capaul eine Tasse hin und kippte seine im Stehen. »Zucker?«

      »Ja, gern. Was ich sagen wollte: Auf der anderen Seite des Tunnels, in der Val Bever …«

      Jon Luca fiel ihm ins Wort. »Er war schon fast dort, jedenfalls jenseits