Ane-Marie Kjeldberg

Lagerkoller: Sechs erotische Novellen


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hochstieg. Sie würde sie sich aus dem Körper laufen. Volle Fahrt voraus.

      Sie kannte die Gegend in- und auswendig und hätte eigentlich auf der Hut sein sollen, aber ihre Gedanken drehten sich im Kreise und sie hatte den unter dem verwehten Sand fast vollständig begrabenen Bunker der Deutschen, um den man besser einen Bogen machte, völlig vergessen. Mit dem großen Zeh des rechten Fußes stieß sie gegen den Beton, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Solbjørg schrie kurz auf, als sich ein Stück von einer zerbrochenen Muschel in ihre linke Handfläche bohrte.

      Blitzschnell war sie wieder auf den Beinen, etwas, das eine Balletttänzerin beherrschte, und lief weiter in der Hoffnung, niemand habe ihr kleines Missgeschick bemerkt. Dann sah sie das Blut, das in den Sand tropfte. Es tat nicht besonders weh, aber das Blut lief, als entspringe es einer kleinen Quelle. Wie sollte sie zu ihrem Handtuch kommen, ohne eine dramatisch rote Spur hinter sich herzuziehen? Sie presste die blutende Hand auf den geriffelten Stoff ihres Badeanzugs. Nach ein paar Schritten sah sie aus, als habe jemand sie mit einem Messer verletzt.

      „Warten Sie, ich helfe Ihnen“, erklang eine tiefe Stimme dicht neben ihr.

      Sie blickte auf und sah in die Augen von Jens Svart.

      „Das nenne ich mal einen Arzt zur rechten Zeit am rechten Ort“, sagte sie und versuchte zu lächeln.

      Rasch knöpfte er sein kurzärmeliges, weißes Hemd auf, zog es aus und wickelte es um ihre verletzte Hand:

      „Das Hemd kann gewaschen werden. Ihre Hand ist wichtiger. Kommen Sie mit, dann bringen wir das in Ordnung.“

      „Nein, ich möchte Ihnen und Ihrer Frau so früh am Morgen keine Umstände machen. Ich komme schon zurecht.“

      „Meine Frau ist für ein paar Tage in Århus, Sie machen also keine Umstände, Frau Viig. Kommen Sie. Ist das Ihr Handtuch dort drüben?“

      Sie nickte, zögerte aber immer noch. Er fasste sie sanft am Ellbogen und führte sie mit ruhiger ärztlicher Autorität den Strand hinauf.

      Sie spürte die Wärme seiner nackten Arme und seines Oberkörpers. Sie war Ärzte mit so viel nackter, von der Sonne hellbraun gebrannter Haut mit starken Muskeln und Sehnen darunter nicht gewohnt. Doktor Svart war so ganz anders als Ulf mit seinem hellen, sommersprossigen Teint und dem zerbrechlichen Körperbau. Und Svart war größer als Ulf – und viel größer als ihre Kollegen aus dem Ballettensemble.

      Sie war noch nie in Svarts Ferienhaus Havstuen gewesen. Lange hatte es leer gestanden, bis Jens Svarts junge Frau das Haus vor ein paar Jahren von ihren Großeltern geerbt hatte, etwa zu der Zeit, als sie heirateten.

      Es war eines der kleinsten Ferienhäuser in der Gegend und bestand nur aus einem Raum mit einem kleinen Anbau für Küche und Windfang, aber es war hell und freundlich eingerichtet mit weißen Wänden, leichten Möbeln und feinen Spitzengardinen.

      „Setzen Sie sich doch bitte, Frau Viig“, sagte Svart und deutete auf einen weißen Korbstuhl.

      Er ging in die Küche, und sie hörte, wie er sich lange und gründlich die Hände wusch. Sie sah sich um. Auf der Fensterbank stand eine kleine Sammlung Briefbeschwerer aus Glas, alle blau. Dazwischen lagen ein paar kleine Steine, die Solbjørg gerne genauer betrachtet hätte, aber man konnte ja nicht einfach in einem fremden Haus herumschleichen, erst recht nicht, wenn man als Patient gekommen war. An einer der Wände stand ein breites Regal, vom Boden bis zu Decke voller Bücher. Werke von Emil Aarestrup, Henrik Pontoppidan und Johannes Jørgensen, aber auch moderne Autoren wie Leif Panduro und Klaus Rifbjerg waren zu finden. Auf dem Tisch lag Frank Jægers neueste Gedichtsammlung Idylia, die auch auf ihrem Nachttisch Platz gefunden hatte.

      Svart holte seine Arzttasche, zog sich einen Stuhl vom Esstisch heran und setzte sich neben sie. Er nahm ihre Hand, wickelte den provisorischen Hemdverband ab und hielt die Wunde in das Licht, das durchs Fenster hereinfiel. Mit ruhigen Bewegungen reinigte er die Wunde mit Wasser, untersuchte sie genau, griff nach einer Pinzette und setzte seine Arbeit fort. Sie biss die Zähne zusammen und sog die Luft ein. Es tat weh.

      „Stillhalten!“ Er presste ihre Hand auf seinen Bauch, stellte sie ruhig.

      Normalerweise war sein Dänisch perfekt, aber jetzt konnte sie seine norwegische Herkunft erahnen. Es hatte etwas mit dem t und der Aussprache der Vokale zu tun. Seine Brust war immer noch nackt, und ihr Daumen und ihr Unterarm lagen auf der glatten, warmen Haut. Sie spürte seinen Herzschlag. Schwitzte. Wandte den Blick ab, ließ ihn durchs Zimmer schweifen, sah den Mann wieder an, seine Beine. Er trug khakifarbene Shorts. Eine feine, goldbraune Behaarung überzog Schenkel und Waden, ganz ähnlich den Härchen auf dem oberen Teil seiner Brust.

      Ulf hatte keine Brustbehaarung, und die Härchen auf seinen Armen und Beinen waren spärlich und sehr hell.

      Sie musste weg. Nach Hause.

      „Das ist wohl wieder in Ordnung“, sagte sie. „Ich sollte jetzt besser …“ Ihr wurde schwindelig. Ihre Hand hinterließ Schweißtröpfchen auf Svarts Brust und Bauch. Die Hand blutete wieder, und das Blut lief an ihm herunter, noch bevor er es mit einem Wattebausch auffangen konnte. Ihr Blut war an ihm, lief an seinem Nabel vorbei bis zur Hose, als sauge sie die rote Flüssigkeit förmlich an.

      „Ist Ihnen nicht gut?“, fragte er nachdrücklich. „Sie müssen sich hinlegen.“ Er legte ihren gesunden Arm um seinen Nacken, fasste sie um die Hüfte und half ihr aufzustehen. Er stützte sie und bugsierte sie auf die andere Seite des Zimmers, wo ein Sofa stand, wie sie zunächst angenommen hatte, doch jetzt bemerkte sie, dass es das Ehebett der Svarts war, bezogen mit graugestreifter Bettwäsche und großen, weißen Kissen.

      „Nein, nein, es geht schon, ich muss mich nicht hinlegen“, sagte sie. „Mein Badeanzug ist auch immer noch feucht. Ich ruiniere nur ihr Bett.“

      „Ich kann nicht zulassen, dass Sie am Ende noch auf den Boden knallen. Bewusstlose fallen hart“, antwortete er, hob ihre Beine aufs Bett und legte sie zurecht. Sie spürte seinen festen Griff an Beinen und Schultern.

      Er holte Arzttasche und Stuhl herüber und nahm die Behandlung ihrer Wunde wieder auf.

      Er roch nach Pfeifentabak, Fichtenharz und irgendetwas Undefinierbarem, aber sehr Behaglichem. Er hatte Fältchen am Mund, kräftige Brauen und sowohl ein markantes Kinn als auch eine prägnante Nase. Die Augenpartie verriet, dass er viel gelächelt hatte, aber die Ränder darunter bezeugten, dass es auch Kummer und Sorgen gegeben haben musste. So ein Unsinn, hätte Ulf gesagt. Du kannst doch nicht wissen, warum die Leute Ränder unter den Augen haben. Aber Solbjørg wusste es.

      Und dann waren da Jens Svarts Augen. Sie hatte bisher nie auf ihre Farbe geachtet. Sie waren grün, grün wie die Scherben, die sie zusammen mit ihrem ersten Freund auf dem Boden eines Waldstücks gefunden hatte, wo im 16. Jahrhundert eine Glashütte gestanden hatte. Der Tag im Wald bei Rye hatte etwas an sich gehabt, das sie nie vergessen würde, obwohl sie die Scherben längst nicht mehr besaß. Eine Verbundenheit mit der Vergangenheit, aber noch mehr als das, einen Zusammenhang im gesamten Dasein, den sie nicht erklären konnte, aber klar und deutlich fühlte, während sie das grüne Glas unter den großen Buchen aufgehoben hatte. Jetzt sah sie diese Farbe wieder, changierend und doch rein, in den Augen eines Mannes, der ihre verletzte Hand betrachtete.

      Und sie lag hier, im Badeanzug, auf seinem Bett, während er nur mit Shorts bekleidet neben ihr saß und ihre Hand untersuchte, einen Teil ihres Körpers berührte. Er hatte große, kräftige Hände, durchzogen von einem Netzwerk schwachgrüner Adern unter der sonnengebräunten Haut.

      Plötzlich drehte er den Kopf und sah ihr direkt in die Augen, hielt ihren Blick fest. Seine Augen hatten tatsächlich eine ganz ungewöhnliche Farbe, und es war, als wüssten sie etwas über sie, dessen sie sich nicht einmal selbst bewusst war.

      „So, fertig.“ Er drehte ihre Hand, sodass sie das Pflaster darauf sehen konnte. „Dann können wir ja jetzt zum angenehmen Teil unserer Begegnung übergehen.“ Er lächelte, hatte schöne, schneeweiße Zähne.

      „Zum angenehmen Teil?“ Sie stolperte über die Worte.

      „Ich mache uns eine Tasse