Ida Bindschedler

Die Leuenhofer


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hat doch gesagt, man suche zuerst den Wald ab. Eva hat immer einen eigensinnigen Kopf, und die andern laufen ihr nach.“

      Ernst Hutter befahl dreien von seinen Leuten, dass sie die Mädchen heraufholen. Aber schon wurden diese wieder sichtbar, dicht zusammengedrängt; aber man konnte nicht erkennen, was sie hatten; man hörte sie laut durcheinanderrufen. Als sie näher kamen, sah man, dass Netti, umringt von den andern, ein kleines Kind trug. Das Kind schrie mörderlich.

      „Wir haben es; wir haben es!“ riefen die Mädchen den Buben zu, die ihnen entgegenliefen. Wir haben gedacht, es könne etwa in das Haus da unten gelaufen sein und sind hinuntergerannt. Und da auf einmal sahen wir es am Wegrand unter einem Busch ganz allein, das arme Büblein.

      ,,So, du armes Trütscheli“, sagte Netti zärtlich. „Jetzt sei nur still. Jetzt bringen wir dich deiner Mutter. Gelt du, zur Mutter.“ Die Knaben kamer alle herbei und betrachteten den Fund.

      Es war ein dicker, kleiner Bub mit kurzgeschornem Haar.

      ,,Das ist jetzt erst noch die Frage, ob es der Frau Müggler ihr Hermännli ist“, sagte Walter Kienast. „Habt ihr ihn gefragt, wie er heisse?“

      „Er gibt keine Antwort; er schreit nur. Frau Müggler hat ja gesagt, er rede noch nicht viel. Man sieht aber doch an den grauen Höslein, dass er es ist und an der schwarzen Wachstuchschürze da, grüneingefasst.“

      ,,Wegen dem!“ erwiderte Walter. „Es haben viele kleine Buben solche Wachstuchschürzen und graue Höslein.“

      „Aber du siehst doch vielleicht, dass er rote Backen hat und braune Haare, und ganz allein ist er da unten gewesen und hat geweint.“

      Die Buben waren jetzt überzeugt. Lieber wäre es ihnen gewesen, sie hätten statt der Mädchen den Kleinen gefunden; aber es war doch wenigstens die sechste Klasse; es waren doch die Leuenhofer, die das verlorene Kind ins Städtchen zurückbrachten.

      Das Büblein hatte einen Augenblick zu weinen aufgehört und den grünen Buchenzweig in die Hand genommen, den eines der Mädchen ihm hingehalten hatte. Jetzt fing es aufs neue jämmerlich an zu schreien, warf den Zweig hin und strampelte so auf Nettis Arm, dass sie es kaum mehr halten konnte.

      „Stell es nur hin“, sagte Walter Kienast. „Es könne ja so gut laufen, hat seine Mutter gesagt.“ Netti wollte das Büblein auf den Boden stellen, und mehr als ein Dutzend Hände streckten sich, um es zu führen. Aber es setzte sich auf den Boden. „Nei, nei“, schrie es aus allen Kräften. ,,Dodi, Mem, Mem.“

      „Dodi, das heisst gewiss Grossmutter“, erklärte Ottilie Eggenberg, „unser kleines Schwesterchen sagt auch immer so.“

      „Also, dann müssen wir es halt doch tragen“, entschied Ernst Hutter und wollte es aufnehmen.

      „Nein, halt, nicht!“ riefen die Mädchen; „wir haben es gefunden; wir dürfen es tragen.“

      „Das ist noch nicht ausgemacht“, entgegneten die Buben. „Uns ist es eingefallen, dass wir das Büblein suchen könnten. Uns hat es Herr Schwarzbeck erlaubt. Ihr habt nur so mitdürfen!“

      Die Mädchen aber standen wie ein Wall um den Kleinen und wehrten die Buben ab.

      „Komm, komm“, versuchte Ottilie Eggenberg den Kleinen zu trösten und aufzunehmen. ,,Komm! Gelt, du willst lieber mit uns gehen als mit den Buben, gelt?“

      Zu gleicher Zeit war aber auch Hedwig Bühler hingekauert.

      „Lass es doch mich tragen! Ottilie! ich möchte es auch ein wenig haben.“

      Ottilie liess nicht los und hielt das Büblein oben, während Hedwig an den dicken Beinchen zog.

      „So –! reisst es jetzt noch auseinander“, sagte Walter Kienast. „Jetzt nimmt mich doch wunder, ob es bei uns noch lauter brüllen würde als bei euch!“

      Schliesslich wurde ausgemacht, dass Ottilie das Büblein bis zu dem Baum dort unten trage und von da an Hedwig Bühler und die andern Mädchen der Reihe nach. Ernst Hutter aber von den ersten Häusern bis zur Sonnengasse, damit man sehe, dass die Buben auch beteiligt waren bei der Sache.

      Ins Haus sollte dann Eva das Büblein tragen.

      So ging es die Schättenwaldstrasse hinunter. Abwechselnd suchten die Buben und Mädchen das Büblein zu unterhalten. Felix Kleinhans nahm ein Blatt vor den Mund und brachte wunderbare Töne zustande. Das Büblein horchte ein paar Augenblicke mit offenem Mäulchen; dann schnaufte es auf, als ob es sich besänne, dass es ja eigentlich zu schreien habe und hob von neuem an. Auch das süsse rote Zeltchen, das Netti Tobel ihm zwischen die Zähnchen steckte, hielt nicht lang.

      „Nei, nei, Dodi, Mem!“ weinte der Kleine auf einmal wieder und spuckte das Zeltchen heraus.

      So kam man ins Städtchen.

      „Bsst, bsst“, suchte Eva Imbach, die nun an der Ecke der Sonnengasse den Kleinen übernahm, zu beschwichtigen. Nun sind wir gleich bei der Mamma, gleich, gleich.“

      Vor den Häusern standen da und dort Leute. Die Kinder hielten sich nicht auf; aber sie hörten wie ein alter Mann sagte: „Aha, da bringen sie der Frau Müggler ihr Hermännli. Es sind die Leuenhofer.“

      Ottilie Eggenberg zeigte das Haus der Frau Müggler. Die Buben und Mädchen schritten in geschlossenen Reihen dicht neben und hinter Eva Imbach her. Wie das fein war, nun der Frau Müggler ihr Bühlein zurückzubringen. Und dann nachher den Leuten, besonders Herrn Schwarzbeck zu erzählen, wie es gegangen war und wo man den Kleinen gefunden hatte, wenn Herr Schwarzbeck heraufkäme von der Riedau.

      Ottilie trat voraus in den Hausgang und klopfte an die Türe.

      „So“, sagte Eva zu dem Büblein, das um sich guckte und stellte es auf den Boden. „Gelt, wie gut, dass du jetzt bei der Mutter bist.“ –

      Ottilie Eggenberg machte die Türe auf und schob den Kleinen vor sich her, und alle Buben und Mädchen drängten in die Stube hinein.

      Aber welche Überraschung und Bestürzung! In der Stube, umringt von drei oder vier Frauen stand Frau Müggler und hatte – die Leuenhofer Buben und Mädchen trauten ihren Augen nicht – schon ein anderes Büblein auf dem Arm, auch mit einer grüneingefassten Wachstuchschürze und grauen Höslein, mit braunem Haar und roten Bäcklein. – Die Leuenhofer Buben und Mädchen standen starr

      Die Frauen aber drehten sich zur Türe. „Ja, Kinder, was wollt ihr denn? – Wir haben das Hermännli schon lange. Es ist zu seiner Grossmutter gelaufen, und die ist nicht zu Hause gewesen, und da ist das Hermännli eingeschlafen im Gartenhäuslein unter der Bank. Aber was ist jetzt das für ein Kind – du mein Trost, wo habt ihr denn das her?“ –

      Die Leuenhofer Buben und Mädchen wussten gar nicht wohin schauen vor Beschämung und Verlegenheit.

      Nur mit Mühe brachten die Frauen aus ihnen heraus, wo sie das Büblein gefunden. ,,Der Ernst Hutter, der muss es sagen“, flüsterten die hintern; „der ist ja der Anführer, ja und die Eva, die Eva ist vorausgerannt, dort hinunter.“ –

      Frau Müggler stellte ihr Büblein hin und nahm das andere, weinende auf den Arm. „Du armes Tröpflein“, sagte sie, „haben sie dich nur so fortgetragen –. Aber auch! Aber auch!“ Sie zog ihrem Hermännli das weisse Wollschäfchen aus der Hand und reichte es dem kleinen Fremden. Der hörte auf zu weinen; er fühlte sich besser da auf dem Arm von der Frau. Die Kinder, die hatten ihn so merkwürdig fest gepackt, gar nicht, wie er es gewohnt war.

      Statt des fremden Bübleins erhob nun natürlich das Hermännli ein Zetergeschrei.

      Frau Müggler gab ihm einen kleinen Klapps. „Sei du nur still, du kleiner Nichtsnutz, hast mir so eine Angst gemacht!“

      Aber dann wandte sie sich zu den Leuenhofer Kindern, die verlegen sich an der Türe herumdrückten. „Jetzt nehmt halt den Weg noch einmal unter die Füsse so rasch ihr könnt und tragt das Büblein wieder hinauf zur Schättenhalde. Wenn ich denke, dass jetzt seine Mutter es überall sucht, wie ich meines. Herrjeh, Kinder, was habt ihr doch