Ida Bindschedler

Die Leuenhofer


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Reihe nachgehen wie vorher. Und da ist es noch nicht an mir; ich bin erst der 7. oder 8. gewesen.“ „Die Mädchen können es jetzt wieder nehmen“, neckte Walter Kienast; „sie haben es ja durchaus nicht hergeben wollen am Anfang, und sie haben es überhaupt ja gefunden.“ Aber die Mädchenarme streckten sich diesmal nicht so eifrig aus, und die kleinen dicken Beinchen kamen nicht in Gefahr. Es war doch wirklich zu arg, das Büblein jetzt wieder durch das ganze Städtchen zu tragen und sich von den Leuten auslachen zu lassen.

      Da trat Ernst Hutter tapfer herzu und nahm das Büblein vom Arm der Frau.

      „So“, dachten die andern erleichtert; „wir brauchen überhaupt gar nicht alle mitzugehen“, und vier oder fünf von der Schar machten Miene sich zurückzuziehen.

      Aber Eva Imbach und ein paar andere stellten sich vor sie hin:

      „Halt, so geht das nicht! Wir müssen alle mit, die ganze Klasse. Natürlich! und jedes kommt der Reihe nach dran. An der Ecke, beim Hecht nehme ich das Büblein wieder – das sind mir Schöne, die jetzt weglaufen wollen.“ –

      Beschämt gaben die paar ihre Ausreissergedanken auf und schlossen sich Ernst Hutter an. Die Frauen traten auch unter die Türe, um dem kleinen Zug nachzusehen.

      Aber er kam nicht weit. Von der Eiergasse herauf nahte ein Trupp Knaben. Es waren die Fünftklässler. Als sie Ernst Hutter mit einem Büblein auf dem Arm erblickten, erhoben sie ein Jubelgeschrei und rannten dann zurück zu Herrn Schwarzbeck, der hinter ihnen auftauchte. „Sie haben es!“ schrien sie. „Ernst Hutter trägt es auf dem Arm.“

      Umsonst suchten die Sechstklässler sie abzuhalten: ,,Seid doch still; es ist ja ein falsches.“

      Die Fünftklässler hörten nicht: „Sie haben es! sie haben es, Herr Schwarzbeck! hurra!“

      Die Leute von der Eiergasse und von der Sonnenstrasse kamen heraus, und einer fragte den andern, was das Geschrei bedeute.

      Die Sechstklässler hätten grad mögen in den Boden sinken; aber das holperige Pflaster der Eiergasse tat sich nicht auf, und Herr Schwarzbeck kam in raschem Schritt und freudigem Gesicht auf die Schar zu. Doch als ob die Lage der Sechstklässler noch nicht fatal genug wäre, eilte vom Ende der Mahlergasse eine Frau herzu mit weissem Kopftuch. Zwei junge Mädchen wiesen ihr den Weg: „Da hinunter sind sie mit ihm. Aber dort stehen sie ja!“

      Die Frau lief herbei und riss Ernst Hutter das Büblein aus dem Arm. „Theodorli, mein Büblein! Gottlob, Gottlob!“ Sie drückte ihr Kind ein paarmal an sich und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann aber wandte sie sich zornig zu den Buben und Mädchen.

      „Jetzt möchte ich aber doch wissen, was das für eine Art ist, aus lauter Übermut oder Bosheit oder was weiss ich, das Kind fortzutragen; ihr sollt aber noch etwas erfahren; ich will schon dafür sorgen, dass ihr gehörig gestraft werdet.“

      ,,He, aus Bosheit haben sie es nicht getan“, beschwichtigte eine der Frauen die Mutter und erklärte ihr den Irrtum der Kinder.

      So leicht liess aber diese sich nicht beruhigen. ,,Man trägt doch so ein armes Kind nicht nur mir nichts dir nichts fort. Das Haus wäre nicht weit gewesen, wo ihr hättet fragen können. So dumme Kinder gibt es doch gewiss weit und breit nicht mehr.“

      Die Sechstklässler senkten ihre Köpfe noch tiefer. Es war schrecklich, vor allen Leuten und vor den Fünftklässlern das anhören zu müssen.

      „Ich wollte mit dem Theodorli auf unsern Kartoffelacker hinaus“, wandte sich die Mutter des Bübleins zu den Frauen. „Da sehe ich unterwegs, dass die Hacke gar nicht mehr ordentlich im Stiel hält und muss wieder zurück. Und weil das Büblein so langsam ist, setze ich es an den Wegrand. Es ist so ein braves und läuft nie fort. Gelt Dodi!“

      Sie fasste das dicke Händchen, das auf ihrer Schulter lag.

      ,,Und wie ich mit der bessern Hacke am Garten vorbeigehe, sehe ich, dass die tausends Hühner wieder drin sind. Das hat mich ein wenig versäumt. Und grad in der Zeit muss es geschehen sein! Der Schrecken, den ich gehabt! Ich habe gar nicht gewusst, was denken, und was tun. Ringsum hab ich gesucht und gerufen. Da ist ein Mann gegen den Schättenwald heraufgekommen und der hat mir gesagt, er meine, er habe eine Schar Buben und Mädchen mit einem schreienden kleinen Kind gegen das Städtchen hinunter gehen sehen. Da bin ich dahergelaufen; aber auf dem Weg hab ich immer gedacht, es sei gewiss doch nicht meines. Das würde man doch nicht wegtragen. Kinder stehlen tun heutzutage doch nur noch Zigeuner. Nein, was hab ich für eine Angst ausgestanden! Und mein Theodorli auch. Nur so davonrennen mit so einem armen unschuldigen Kindli.“

      Die Buben und Mädchen sahen schuldbewusst vor sich nieder. Es kam ihnen jetzt selber recht unsinnig vor, was sie getan. Und die Mädchen sahen nach dem Büblein, dessen Gesichtlein noch ganz verweint aussah – dem warmherzigen Netti und ihrer Freundin Ottilie liefen vor Reue und Mitleid ein paar Tränen über die Backen.

      „Eine gehörige Strafe verdient ihr, dass ihr’s nur wisst!“ redete die Frau sich von neuem in den Zorn. Es wird am besten sein, ich gehe zu eurem Schullehrer, dass er erfährt, was ihr für Leute seid. Wie heisst er? Wo wohnt er? So redet!“

      „Der ist leicht zu finden. Da steht er schon“, sagte Herr Schwarzbeck und trat vor die Frau. Er hatte zugehört, ohne etwas zu sagen. Er fand, seine Sechstklässler verdienten schon eine Strafpredigt. Und zur Abwechslung könne sie ja einmal statt seiner von jemand anderem gehalten werden.

      ,,Es tut mir leid, dass meine Leutchen Ihnen einen solchen Schrecken und solch eine Angst gemacht haben.

      Euch tut es auch leid, nicht wahr?“

      Er drehte sich nach den Kindern um.

      „Ja, ja“, riefen diese schon etwas erleichtert, obgleich Herr Schwarzbeck ein ernstes Gesicht machte.

      ,,Was fängt man nur mit euch an, ihr Wettersbuben und Mädchen“, sagte der alte Buchbinder Häberlein, der dabei stand. Er machte die Hefte für die Leuenhofer und lieferte die Federn und Bleistifte. Da durfte er schon ein wenig mitreden. „Man sollte euch, weil die Frau so Zeit versäumt hat, morgen auf den Kartoffelacker schicken, jedes mit einer Hacke, zum Unkraut Austun, von vier bis sieben Uhr.

      Alle Umstehenden lachten. Die Fünftklässler, die mit grossem Interesse der Verhandlung folgten, riefen vergnügt: „Dann dürfen wir aber auch mit, nicht wahr, Herr Schwarzbeck!“

      Die Frau von der Schättenhalde – sie hiess Horber – aber wehrte: „Ja, noch gar, die ganze Schar! Das wäre mir etwas! Wenn sie das Jäten so gut verstehen wie das Kindersuchen, so hätten wir um sieben Uhr wahrscheinlich wohl noch Unkraut, aber keine Kartoffeln mehr.“

      Wider Willen musste sie selber doch ein wenig lachen.

      Diese bessere Stimmung benützte Frau Müggler und trat mit ihrem Hermännli näher zu ihr hin.

      „Sehen Sie, jetzt verraucht der Zorn schon. Kinder sind halt Kinder. Man weiss ja, was für dummes Zeug man selber gemacht hat in der Jugend. Es ist ihnen arg genug. Man sieht es. Ein anderes Mal fahren sie gewiss nicht mehr so drein.

      Und die Hauptsache ist doch, dass wir unsere Büblein wieder haben, Sie das Ihrige und ich das meine.“

      „Und das ist wahr“, sagte eine von den Frauen, „gleichen tun sich erst noch die beiden merkwürdig, dieselben Härlein und rote Bäcklein! Man weiss nicht, welcher der nettere ist, das Hermännli oder – wie heisst es – das Theodorli.“

      Der kleine Held von der Schättenhalde, der sich jetzt geborgen auf dem Arm seiner Mutter fühlte, sah mit seinen runden braunen Augen auf die Kinder herab. Netti tätschelte verstohlen sein Händlein. Da lachte das Büblein sie ganz freundlich an.

      „Sehen Sie, Frau Horber, sehen Sie“, riefen die Frauen. „So müssen Sie es auch machen. Jetzt hat das Büblein schon vergessen, was die Kinder ihm angetan haben. Wie herzig es lacht.“

      ,,He, also dann“, sagte Frau Horber zögernd, ,,so will ich machen, dass ich wieder heimkomme; mein Mann wird so wie so nicht wissen, warum ich nicht in die Kartoffeln gekommen bin.“ „Da sag deinem Freund