gefällt es ihm auch einfach nicht, viele neue Leute auf einmal kennenzulernen.
Das konnte Dell nachempfinden. Er hasste es, in große Gruppen von Unbekannten zu geraten, denn irgendwann kam immer die Vergangenheit zur Sprache. Die Leute fragten dann scheinbar harmlose Sachen wie Warum trinkst du nichts? oder Woher kommst du? Dell dachte nicht gern an sein Leben vor dem vergangenen Frühling.
Wie jedes Mal stieg Dankbarkeit in ihm auf, als Dell an die unerwartet gespendete Niere dachte, die er Anfang März erhalten hatte – eine Niere, die ihm das Leben gerettet hatte. Da die Spende anonym vorgenommen worden war, würde Dell nie die Gelegenheit erhalten, seinem heldenhaften Lebendspender zu danken. Alles, was er tun konnte, war, zu Ehren dieses Menschen das beste Leben zu führen, das ihm möglich war, und seine zweite Chance zu nutzen.
In der Diele ging die Musik an, irgendetwas Lautes, zu dem sich gut tanzen ließ. Dell schob das Essen auf dem Tresen umher, arrangierte unnötigerweise die Tabletts mit den Snacks um und lauschte abwesend einer nahen Unterhaltung über Strandhäuser und Roadtrips. Die Salsa stand nicht nah genug bei den Tortilla-Chips, daher stellte er den Zwiebeldip auf die andere Seite der Schüssel mit den Kartoffelchips.
»Ich an deiner Stelle«, sagte eine warme Stimme hinter ihm, »würde die Schüsseln mit den Chips in die Mitte schieben und die Dips außen herum drapieren.«
Dell drehte sich um und stellte leicht überrascht fest, dass Taro hinter ihm stand. Er lächelte schüchtern. »Dann b-b-bedien dich«, antwortete er.
Du hast seit acht Jahren nicht gestottert.
Reiß dich mal zusammen!
Taro trat neben ihn und bewegte ein paar Gegenstände. Das neue Arrangement sah gut aus und sorgte außerdem dafür, dass die Chips einem Farbschema von hell zu dunkel folgten.
»G-gibst du viele Partys?«, fragte Dell.
»Nie, und ganz bestimmt nicht bei mir. Nein, das liegt an meiner Zwangsstörung. Sie hat meine Mutter wahnsinnig gemacht, wenn sie Dinnerpartys gegeben hat, weil ich das Essen immer nach Farben arrangieren wollte statt nach der Servierreihenfolge, die sie geplant hatte.« Taros Lächeln bröckelte ein wenig.
Dell erkannte die Trauer und fragte nicht nach Taros Eltern. Er war in seinem Leben oft genug bedrängt worden, um zu wissen, wann er sich zurückhalten musste. »Ich weiß die Hilfe zu schätzen. I-ich habe keine Zwangsstörung, aber ich bin nicht sehr gut darin, mich auf Partys zurechtzufinden. Daher hat es mir etwas zu tun gegeben, das Essen anzurichten.«
»Ich bin darin auch nicht besonders gut, aber ich habe Cris versprochen zu kommen. Er ist ziemlich entschlossen, wenn es da-rum geht, mich aus meiner Komfortzone zu schubsen.«
»Er scheint ein guter Freund zu sein.«
»Der allerbeste.«
Eine Welle der Eifersucht schoss heiß und schnell durch Dell hindurch. Er hatte niemanden, der ihn aus seinen Komfortzonen schubste. Onkel Charles respektierte Dells Privatsphäre so sehr, dass es ihm manchmal verdammt noch mal auf die Nerven ging. Dell verstand ihn. Sie waren beide derselben scheinheiligen, überreligiösen Südstaatenfamilie entkommen, die stets über anderer Leute Angelegenheiten Bescheid wusste und schnell bei der Hand war, jeden kleinen Fehler zu verurteilen.
Dell hatte im Verlauf seines kurzen Lebens unglaublich große Fehler gemacht und mit seiner Gesundheit bezahlt. Aber manchmal sehnte er sich nach jemandem, der ihn ermutigte, etwas Neues auszuprobieren. Nicht mehr dauernd so viel Angst zu haben.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Taro.
»Höh?« Eine sehr intelligente Antwort.
»Du hast gerade traurig ausgesehen. Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich war mit den Gedanken woanders.«
»Oh.« Taro schielte zu den beiden Gruppen, eine war in der Küche, die andere tanzte im Arbeitsbereich. »Ich schätze, du kennst hier alle ziemlich gut?«
»Privat? Nicht wirklich«, antwortete Dell. »Ich meine, wenn sie zum Drehen hier sind, geht es in erster Linie um die Arbeit. Es ist nicht so, dass wir herumstehen und übereinander tratschen.«
»Echt? Ich dachte immer, wenn man eine Gruppe schwuler Kerle in einen Raum packt, können sie gar nicht anders, als zu tratschen.«
Jepp, schätze, ich lag richtig, dass er hetero ist.
»Ich vermute, einige der Darsteller reden mehr als andere«, sagte Dell. »Aber ich ziehe es vor, mich rauszuhalten. Professionell zu bleiben und so.«
»Das musst du vermutlich auch. Du scheinst echt jung für einen Kameramann zu sein.«
Dell widerstand der Versuchung, scharf zu reagieren, denn Taros Stimme hatte sanft und neckend geklungen.
»Nächsten Monat werde ich einundzwanzig. Und ich habe mich schon immer für Film und Fotografie interessiert. Aber meine Eltern haben nie zugelassen, dass ich auch nur darüber nachdenke, das Interesse zum Beruf zu machen. Sobald ich den Abschluss von der Highschool hatte, sollte ich einen Job in der örtlichen Fabrik annehmen und in die Gewerkschaft eintreten.«
Taro verdrehte die Augen. »Das hatten deine Eltern mit meinen gemeinsam. Nicht die Sache mit der Fabrik, aber der Versuch, mein Leben für mich zu planen. Familiäre Erwartungen.«
»Was solltest du denn werden?«
»Ein Chirurg, wie mein Vater. Irgendwann habe ich ihn runtergehandelt und wir sind übereingekommen, dass ich einen Abschluss meiner Wahl machen kann, solange er mit der Uni einverstanden ist.« Taro begann, mit den Fingern auf dem Tresen zu trommeln. »Am Ende war nichts davon wichtig.« Die Finger trommelten härter.
Dell hatte sich schon immer als stillen Beobachter der menschlichen Natur verstanden und er bemerkte die kleinen Anzeichen von Kummer bei Taro. Seine spielenden Finger, der Kiefer verkrampft, angespannte Schultern. Obwohl Taro das Gespräch lenkte, waren sie in das sprichwörtliche Minenfeld geraten.
Zeit für einen Themenwechsel.
»Der einzige Darsteller, den ich privat gut kenne, ist Adam Swift«, sagte Dell. Er deutete auf einen dunkelhaarigen Mann, der sich mit Onkel Charles und einigen anderen unterhielt. Dell konnte nichts gegen den schuldbewussten Stich unternehmen, als ihn sehr kurz Adams Blick traf. Es war leichter, ihn gedanklich bei seinem Pornonamen zu nennen als bei seinem richtigen, der Rick Fowler lautete. Rick war der Mann, den Dell gut kennengelernt hatte, und Rick war der Mann, dem er wehgetan hatte.
Adam dagegen war der Typ, mit dem er bei der Arbeit am Set zu tun hatte, und nicht mehr als das.
»Ihr zwei seid also Freunde?«, fragte Taro.
Die Schuldgefühle wurden zehrender. »Inzwischen nicht mehr und das liegt an mir. Aber alle Jungs, die Chet einstellt, sind großartige Menschen. Er hat ein Händchen dafür, interessante Charaktere auszusuchen. Die Einzigen, die ich nicht kenne, sind Tristan und Isaac, weil sie keine Darsteller sind, sondern die Freunde zweier Ex-Models.«
»Ja, Cris hat mir erzählt, was letzten Herbst passiert ist.«
Für einen kurzen Moment dachte Dell, Taro wüsste vom Grund für seine Überdosis – was lächerlich war, denn der Einzige, der eine Ahnung haben könnte, war Adam/Rick, und Taro kannte ihn nicht.
»Jon und Isaac haben wirklich Glück gehabt«, fuhr Taro fort. »Und Adam auch.«
Oh richtig, die Sache.
Dell hatte sich noch von seiner Überdosis erholt, als die drei von einem unbekannten Stalker des ehemaligen Darstellers Jon angegriffen worden waren. Adam war angeschossen worden und Jon hatte eine Gehirnerschütterung erlitten. Sie waren alle am Leben und gesund und der Stalker eingesperrt, aber es waren ein paar unglaublich stressige Wochen für seinen Onkel gewesen. Dell hatte nicht die Kraft gehabt, so für Onkel Charles da zu sein, wie der ihn brauchte.
»Ja, sie hatten Glück«, bestätigte Dell.
»Oh ja. Man kann nicht