Lise Gast

Sommer ohne Mutter


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heraus, jedes Jahr um diese Zeit wunderte man sich, daß so viele da waren. „Ihr dürft dann auch raus, natürlich“, versprach die Mutter, während sie die Geburtstagsschokolade eingoß, „und Egbert behält die neuen Schuhe an. Dürfen wir den Kuchen schon jetzt anschneiden, Egbert? Danke, ja. Für heute nachmittag backe ich dann noch einen Blechkuchen dazu.“

      Früher hieß Egbert in der Familie Wuz, ‚der Wuz‘ eigentlich. Alle hatten ihn so genannt, es hatte sich so ergeben. Er wollte es nicht mehr hören, und Mutter hatte sich vorgenommen, von nun an ernstlich Egbert zu sagen. „Jedes ‚aus Versehen‘ kostet zehn Pfennig in dein Sparschwein!“ hatte sie versprochen. Noch war kein einziger Groschen hineingeklappert, und Egbert fühlte beinah eine kleine Enttäuschung.

      „Hallo, Wuz! Wir gratulieren!“ klang es in diesem Augenblick zweistimmig. Egbert juchzte auf, rutschte vom Stuhl und stürzte den Ankommenden entgegen. Zwei Groschen, denn zwei Stimmen hatten ‚Wuz‘ gesagt!

      Es waren Jörg und Reinhard, die beiden Studenten, die jede Woche zweimal bei ihnen aßen. Wenn sie Nachtdienst hatten — sie verdienten sich überall, wo sie nur konnten, etwas für ihr Studium dazu — erschienen sie auch manchmal frühmorgens und futterten sich mit einem guten Frühstück voll, ehe sie an ihre Tagesarbeit gingen. So heute.

      „Haha, ihr müßt Strafe zahlen!“ schrie das Geburtstagskind, während die Mutter rasch Kaffee aufgoß.

      „Setzt euch, ihr bekommt sofort etwas Ordentliches. Ja, sehr schön, daß ihr grade jetzt kommt, wir frühstücken heute üppig und so lange wir wollen.“

      Die beiden Studenten setzten sich. Sie hatten Egbert natürlich etwas mitgebracht, der eine einen Frosch, der hopsen konnte, wenn man auf seinem Bauch eine Feder herumlegte. Lustig an diesem Frosch war, daß man nie wußte, wann er hopste.

      Jörg hatte dieses Spielzeug selbst gebastelt und schon viele Leute damit erschreckt, wie er begeistert erzählte. Einmal hatte er den Frosch sogar einem nichtsahnenden Professor auf das Rednerpult gesetzt, die Feder ganz, ganz fest angedrückt, und dann saßen sie alle und warteten gespannt, wann der Frosch springen würde. Es dauerte fast zwanzig Minuten, und der Professor, der sich in diesem Augenblick gerade die Nase putzte, erschrak verhältnismäßig wenig, nahm den Frosch in die Hand und betrachtete ihn eingehend. „So eingehend“, berichtete Jörg lachend, „daß ich Angst hatte, er würde ihn überhaupt nicht mehr herausrücken. Und was hätte ich dem Wuz dann schenken sollen?“

      „Zehn Pfennig!“ schrie Egbert.

      „Ich finde den Frosch viel schöner als zehn Pfennig“, sagte Jörg und tat, als habe er Egbert falsch verstanden. Egbert und Cary erklärten eifrig und überlaut.

      Reinhard hatte ein leeres Heft mitgebracht.

      „Du kannst dir wünschen, was ich hineinzeichnen soll“, sagte er, „jeden Tag aber nur eine Seite voll. Na, heute auch zwei, weil Geburtstag ist.“

      Auf diese Weise saß man lange beim Frühstück.

      „Am liebsten gingen wir gar nicht weg“, sagte Reinhard schließlich, „aus unserer Bude müssen wir sowieso raus. Wir bekamen sie nur für das Winterhalbjahr. Jetzt heißt es also wieder Wohnung suchen —.“ Er seufzte. Mutter sah ihn nachdenklich an.

      Sie war überhaupt stiller als sonst. Als die beiden Studenten aufbrachen, gab ihnen die ganze Familie noch das Geleit bis zur Straßenecke. Dort nahm die Mutter beide Kinder an der Hand, ging mit ihnen zum Haus zurück und setzte sich mit ihnen auf die Stufen vor der Haustür. Die Sonne schien warm, beinah wie im Sommer. Die Steine waren gar nicht mehr kalt.

      „Tja, ich wollte euch doch noch was erzählen“, sagte die Mutter.

      „Eine Geschichte?“ fragte Egbert begierig. Cary sah die Mutter prüfend an — nein, keine Geschichte.

      „Was Wirkliches, du Dummer“, sagte sie strafend, „du immer mit deinem Geschichtenerzählen!“

      „Ja, etwas Wirkliches.“ Die Mutter nahm sich zusammen und fing an. „Paßt auf, es ist so. Egbert hat sich doch gewünscht, endlich groß zu sein. Wenn man groß ist, wird vieles anders im Leben. Vielleicht wird jetzt wirklich einmal alles anders bei uns, jedenfalls für einige Zeit.

      Vaters Reise dauert diesmal länger als sonst, weil sie nach Amerika ging — vier Monate, vielleicht fünf, das war noch nie so und wird wohl auch eine Ausnahme bleiben. Aber Ausnahmen kann man ja ruhig ausnützen, und so habe ich einen Plan gefaßt. Dr. Sommer, bei dem ich viele Jahre als Schwester arbeitete — ich hab’ euch oft davon erzählt — schrieb mir nun gerade, er würde sich sehr, sehr freuen, wenn ich für eine Zeitlang zu ihm zurückkäme. Er findet keine Operationsschwester, mit der er so gut zusammenarbeiten kann wie mit mir. Glaubt ihr, daß mich das freut?“ Sie sah ihre Kinder an. Carys kluges Gesicht unter dem dunklen, nach hinten gebundenen Haar erwiderte ihren Blick ernst und beinah erwachsen. Sie nickte langsam. Egbert enthielt sich der Stimme.

      „Jetzt hopst er, paßt auf!“ schrie er dann plötzlich. Der Frosch saß vor ihm auf der Stufe.

      „Ja, ich würde es sehr, sehr gern tun. Nicht für immer, bewahre. Für immer bin ich am liebsten bei euch, bei Vater und bei euch beiden, in unserm süßen Häuschen. Aber für eine Zeitlang ...“ Eine Weile war es still.

      „Nur müßtet ihr woanders hin, wenn ich nach München gehe“, fuhr Mutter fort. „Wie wäre das, für ein halbes Jahr? Was meint ihr?“

      „Ich glaube, er hopst überhaupt nie“, sagte Egbert und nahm den Frosch, ein kleines Zögern überwindend, wieder in die Hand. „Er will nicht.“

      „Du hast die Feder zu fest angedrückt“, sagte Cary weise, „gib her ...“

      „Nein, das ist mein Frosch!“

      „Ich will dir ja nur zeigen, wie man’s richtig macht!“

      „Ruhig! Ihr werdet euch doch am Geburtstag nicht zanken!“ sagte Mutter mit einem kleinen Seufzer. „Nein, der Frosch gehört Egbert, auch wenn Cary älter ist. Paßt auf: ich gehe jetzt in die Küche und koche Egberts Geburtstagsessen. Solange bleibt ihr hier draußen. Ihr könnt auch den neuen Ball mitnehmen. Bei Tisch erzähle ich euch weiter.“

      Sie stand auf und sah den beiden nach, wie sie davonstoben, dem Spielplatz zu, Egbert mit dem Frosch in der Hand, Cary mit dem Ball. Hatten sie eigentlich begriffen, wovon sie mit ihnen gesprochen hatte?

      Bei Tisch also ging es weiter.

      Es gab eine Speisenfolge, die Egbert sich hatte ausdenken dürfen: Brühsuppe mit Klößchen, Eierkuchen und Apfelmus. Mutter hatte zum Apfelmus sogar noch Waffeln spendiert. Müde und von der Frühlingsluft wie betrunken aßen sich die Kinder toll und voll und bewältigten nicht einmal das Apfelmus ganz. So etwas kam selten vor.

      „Satt bis oben“, erklärte Egbert, und Cary blinzelte. Die Mutter sagte:

      „Wir sind vorhin nicht weitergekommen. Ich habe also an Dr. Sommer geschrieben, daß ich gern komme, wenn ich euch für diese Zeit verborgen kann. Was meint ihr?“ „Verborgen? Wohin denn?“ Egbert und Cary hatten schon manchmal vierzehn Tage bei den Großeltern verbracht. Einmal waren sie in einem Kinderheim gewesen und einmal im Haus einer Tante, die selbst vier Kinder hatte. Diesmal aber handelte es sich nicht um vierzehn Tage oder vier Wochen, sondern um ein halbes Jahr.

      „Ich dachte an Tante Fricke. Sie hat mich oft und oft gequält, euch einmal haben zu dürfen.“

      Cary lachte.

      „Dort ist es fein. Dorthin ginge ich gern. Und sie will uns nehmen?“

      „Ich habe mit ihr gesprochen, aber noch nicht endgültig. Ich wollte ja nichts fest ausmachen, solange ich nicht wußte, ob ihr mögt. Ihr sollt mögen, ihr sollt euch drauf freuen, verstehst du. Sonst bleibe ich hier und sage Dr. Sommer ab.“

      Cary blickte die Mutter an. Die Mutter sah immer hübsch und jung aus. Sie war die schönste Mutter der ganzen Siedlung, blond und mit heller Haut und in den Bewegungen leicht und geschmeidig wie ein junges Mädchen. Jetzt aber sah sie noch jünger