Lise Gast

Sommer ohne Mutter


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Sie sah den Bruder auffordernd an.

      „Ja-a“, sagte Egbert, „o ja, Tante Fricke ist nett ... Wo schlafen wir denn dann dort?“ fragte er nun plötzlich interessiert.

      „In Annelies’ Zimmer. Annelies ist ja nicht mehr zu Hause. Also ihr wollt wirklich?“ Mutters Frage klang unterdrückt glücklich. Cary nickte. Und da nickte auch Egbert.

      „Kommt, wir rufen an“, sagte Mutter und wollte aufstehen. Cary aber kam ihr zuvor und rückte das Tischchen mit dem Telefon schnell in Mutters Reichweite. „Bleib sitzen, es geht auch so!“

      Die Mutter drehte die Wählscheibe. Die beiden horchten und blickten gespannt auf Mutters Mund. Jetzt meldete sich drüben eine Stimme. Ja, das war Tante Fricke. Unverkennbar! Sie sprach hoch und ein bißchen blechern, aber immer vergnügt.

      „Ob ich die Kinder will? Ich habe grade ein vierbeiniges bekommen“, hörte Cary, die dicht neben der Mutter stand, „ja, ein sehr ungezogenes. Dreimal hab’ ich es schon versohlt. Hat den Teppich angeknabbert und meine Hausschuhe verschleppt ...“

      „Den Teppich angeknabbert?“ flüsterte Cary.

      „Du, das tun meine bestimmt nicht“, lachte die Mutter, die schon richtig verstanden hatte. „Und wie heißt dein Pflegekind?“

      „Hexe. Ist auch eine. Wiegt kaum fünf Pfund und frißt täglich zehn ...“

      „Ein Dackel! Tante Fricke, nicht wahr, ein Dackel!“ rief Cary jetzt so laut, daß man es im Telefon bestimmt hörte. „Siehst du, Mutter, ich hab’ es gleich erraten! Ein junger Dackel!“

      „Da hast du jetzt wohl keine Zeit für zwei zweibeinige Kinder?“ fragte Mutter vorsichtig. Tante Fricke lachte.

      „Doch! War doch ausgemacht! Wenn sie mögen?“

      „Du meinst es wirklich ernst?“

      „Natürlich! Wann bringst du sie mir denn?“

      „Ein Dackel! Dürfen wir mit ihm spazieren gehn?“ jauchzte Cary. „Hat er schon ein Halsband — und eine Leine? Und darf ich ...“

      „Jajaja! Alles! Ich bin froh, wenn die Kinder kommen! Sie können ihn ausführen und auf ihn achtgeben und alles. Wie ich höre, hat Cary Lust. Und der Wuz?“

      „Er heißt ab heute Egbert“, sagte die Mutter und lächelte ihren Sohn über den Hörer hinweg an. „Ja, ich glaube, er will auch. Jedenfalls hat er nichts dagegen gesagt.“

      „Oder?“ fragte sie lachend, nachdem sie aufgelegt hatte. „Was könnte man denn dagegen haben, wenn man in ein Haus mit einem jungen Dackel kommt?“

      Sie wußte, wie sehr sich ihre Kinder einen Hund wünschten. Schon immer. Alle Versuche, sich hier einen zu halten, waren an zwei übergroßen und sehr streitsüchtigen Katern der Nachbarschaft gescheitert, zum Kummer von Cary und Egbert.

      „Jetzt!“ rief Egbert und sah verklärt zu seiner Mutter auf. „Endlich!“ Der Frosch war gesprungen und saß mitten im Apfelmus.

      Die Mutter lachte, packte ihren kleinen Geburtagsjungen am Kopf und küßte ihn stürmisch und zärtlich ab, was dem gar nicht gefiel.

      „Laß mich! Ich ersticke!“ röchelte er und versuchte, sich den Liebkosungen zu entziehen. Cary sah zu, halb schadenfroh, halb eifersüchtig.

      „Jetzt hast du Wuz gesagt“, grollte sie. Mutter lachte und küßte weiter, wo sie nur ein Stück von Egberts Wangen oder Stirn erwischte.

      „Überhaupt nichts hab’ ich gesagt! Ach ihr Kindsköpfe! Ihr schrecklichen, abscheulichen, gräßlichen, geliebten Kindsköpfe! Geht nur zu eurer Hexe, geht!“

      Es wurde ein langer, schöner, lustiger Geburtstag. Die Mutter und Cary bereiteten alles vor, und dann sprach die Mutter ein bißchen mit ihrer Tochter allein, als Egbert schlief. Für kurz hatte er sich doch hingelegt. Er mußte nicht, aber er durfte.

      „Du nimmst dir dein Geburtstagsbuch und legst dich hin, bis deine Gäste kommen“, hatte die Mutter geraten. „Natürlich nicht ins Bett, das tun nur kleine Jungen. Und du liest ein bißchen, so wie Vater es macht, wenn er mittags ein wenig Zeit hat, weißt du.“

      Egbert hatte nachgegeben und in der nächsten Minute geschnarcht wie ein Wolf. Die beiden Frauen, die große und die kleine, sahen einander an und lachten.

      Und dann hatten sie sich unterhalten, während sie für die kleine Jungengesellschaft den Kaffeetisch deckten. Die Mutter hatte gesagt, daß man größer und älter als sein „Geschwist“ sein könne und das trotzdem nicht immer betonen müsse, wie zum Beispiel so: „Du bist ja noch so dumm, immerzu muß man auf dich achtgeben!“ Man könne aber trotzdem aufpassen, möglichst ohne daß der andere es merkt.

      „Wenn ihr nun wirklich für länger zu Tante Fricke kommt, wird Egbert manchmal Heimweh haben, fürchte ich. Da mußt du ihn trösten. Du mußt ihm sagen, daß es ja nicht für immer ist, und daß Tante Fricke es gut meint, auch wenn sie anders ist als ich, und daß man essen muß, was auf den Tisch kommt. Lustig muß man das den Kleinen beibringen und nicht überheblichgroßschwesterlich, verstehst du ...“

      Jaja, Cary verstand. „Und wenn ich Heimweh hab’, wer tröstet mich?“ dachte sie. Sie sprach es aber nicht aus. Trotzdem hatte es die Mutter gehört, merkwürdigerweise.

      „Es gibt ein sehr gutes Mittel gegen Heimweh“, sagte sie und nahm Cary in ihre Arme. Der Tisch war fertig gedeckt, mit dem Geburtstagskuchen und den Lichtern darum herum und mit Blumen geschmückt, hell und festlich. „Zwei Mittel eigentlich. Eins: an mich einen Brief schreiben. Schreiben tut wohl, mein großes Mädchen, du wirst es merken. Alles, alles schreiben, was man auf dem Herzen hat!

      Und der zweite Trost: selbst trösten! Sicher ist es für kleine, traurige oder verängstigte Leute schön zu hören: ‚Komm, wein nicht, ich bin ja bei dir!‘ Noch schöner ist es aber, das zu sagen. Verstehst du das, meine große Tochter?“

      Cary nickte stumm und heftig. Da bimmelte es, und der erste Geburtstagsgast kam. Eine Stunde zu früh! Er hatte es nicht erwarten können, legte sein Geschenk, ein Döschen mit Seifenblasenwasser, auf den Geburtstagstisch und griff begierig nach dem neuen Ball. Gleich darauf klingelte es zum zweiten Mal, und dann ließ die Mutter die Haustür lieber gleich offen stehen, denn einer nach dem andern der eingeladenen Jungen kam gelaufen. Als alle versammelt waren, weckten sie Egbert.

      Für Cary und die Mutter war nicht mit gedeckt. Sie gingen umher, gossen Kakao ein und boten Kuchen an, und nachher saß Cary mit der Mutter am Fensterplatz, wo sie sonst Schularbeiten machte, und sie tranken für sich. So hatte Egbert es sich gewünscht. Er wollte einen Männergeburtstag feiern. Nachher wurden Seifenblasen gemacht. Die Mutter hatte für Strohhalme gesorgt. Schließlich rannte die kleine Gesellschaft hinaus und spielte draußen Fußball. Ihr Geschrei erfüllte die ganze Straße.

      Cary und die Mutter deckten ab. Kaum aber hatten sie die letzte Tasse sauber in den Schrank gestellt, da stand Egbert schon wieder in der Küche.

      „Der Ball ist zu Hempels geflogen. Kann Cary ihn nicht holen?“ fragte er atemlos.

      „Warum Cary?“ lächelte die Mutter. Egbert trat von einem Fuß auf den anderen.

      „Frau Hempel schimpft immer so, und weil ich doch heute Geburtstag hab’ —“

      Frau Hempel hatte keine Kinder. Kein Wunder, daß sie sich ärgerte, wenn dauernd kleine Füße über ihre schön zurechtgemachten Beete stampften, um verirrte Bälle aus dem Garten zu holen.

      „Wart, ich geh’ mit“, sagte die Mutter. Und da konnte nicht einmal Frau Hempel etwas ausrichten.

      „Spielt lieber was anderes“, riet die Mutter aber, als sie den Ball wiederbrachte.

      „Was denn?“ maulten die Jungen. Die Mutter schlug „Ochs vorm Berge“ vor. Das kannten noch nicht alle.

      „Wer will der Ochs sein?“ Da lachten sie, und keiner meldete sich, so daß die Mutter schließlich Cary