Lise Gast

Sommer ohne Mutter


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mit dem Gesicht zur Hauswand, drehte sich zwischendurch aber blitzschnell um, und wen sie gerade beim Vorwärtslaufen ertappte, den schickte sie zurück. Es war spannend und aufregend, und schließlich gewann Klaus. Nun war er der Ochs vorm Berge und vergaß ganz, sich zu sträuben.

      Später schlug die Mutter vor, Blindekuh zu spielen. Sie band Egbert ihr buntes seidenes Halstuch um die Augen, und es gab viel Gequietsche und Gelächter, wenn er die andern jagte, einen Hemdsärmel oder eine Hose erwischte und raten mußte, wen er gefaßt hatte. Die Mutter ließ die Kinder spielen und schaute nur von Zeit zu Zeit durchs Küchenfenster, ob alles gut ging. Als Blindekuh langweilig wurde, schlug sie zum Verschnaufen „Namensball“ vor. Das hatten die Jungen auch noch nicht gespielt, und sie erklärte es ihnen. Alle stellten sich in einer Reihe auf, auch Cary war dabei, und nun warf Mutter irgendeinem den Ball zu und sagte dabei einen Namen. Wenn sie „Hans“ oder „Gottfried“ oder „Jörg“ rief, mußte der betreffende Junge, dem sie den Ball zuwarf, ihn auffangen, wenn sie aber dazwischen mal „Helga“ oder „Ute“ sagte, mußte er ihn fallen lassen. Bei Cary war es umgekehrt, die mußte den Ball bei Jungennamen herunterfallen lassen und bei Mädchennamen auffangen. Es gab viel Lachen und Schadenfreude, wenn jemand sich irrte. Mutter brachte auch die komischsten Namen „Anastasia“ und „Florian“ und einmal sogar „Rumpelstilzchen“, und da konnte man wirklich nicht entscheiden, ob das ein Jungen- oder ein Mädchenname sei.

      „Natürlich ein Jungenname“, schrie Egbert, „Rumpelstilzchen war doch ein kleiner Kobold, ein Zaubergeist!“ „Ein Geist“, betonte Cary, die den Fehler gemacht und den Ball gefangen hatte, „bei Geistern gibt es nicht Jungen oder Mädchen!“

      „Doch gibt es! Es heißt der Geist!“ schrie einer der andern Jungen, und schließlich mußte Mutter eingreifen und entscheiden. Sie sagte, es gälte nicht, und sie würde jetzt immer richtige Namen bringen, keine aus den Märchen. Sie fing also noch einmal an:

      „Hyronimus, Genoveva —“ und alle kreischten vor Lachen. Schließlich fiel der Mutter kein Name mehr ein. Da schickte sie Cary um ein Stück Kreide, und Egbert durfte die Kreise für „Kaiser, König, Edelmann“ auf die Straße malen.

      „Das spielt ihr aber allein, damit ich euch Vesper machen kann“, sagte sie. „Oder soll Cary —“

      „Ja, die kann bleiben“, sagten die Jungen gönnerhaft. Und der eine setzte hinzu:

      „Sie hat ja gottlob Hosen an.“ Cary trug ihre neuen hellgrünen Jeans. So spielten sie „Kaiser, König, Edelmann“, bis die Mutter zu den belegten Broten rief, zu denen es Apfelsaft gab.

      Es wurde ein wirklich schöner Geburstag. Nach dem Vesper blieben die Kinder im Haus, denn draußen war es inzwischen kühl geworden, es war ja erst allerallerfrühster Frühling. Die Mutter hieß sie alle sich in einen Kreis auf den Boden setzen und die Schuhe ausziehen. Die wurden auf einen Berg in die Mitte geworfen. Zwei mit verbundenen Augen mußten in den Kreis hineingehen und dort die Paare zusammensuchen.

      Sandalen fand man natürlich leicht. Auch hohe Schuhe. Aber manche Paare waren einander eben doch sehr ähnlich, und die mit den verbundenen Augen tasteten und suchten, und alle im Kreis lachten und schrien vor Vergnügen. Als sie endlich alle Paare zusammengefunden hatten, kamen zwei andere an die Reihe. Es war ein lustiges Spiel.

      Gegen Abend sagte der eine der Jungen: „Wir gehen jetzt zum Fernsehen. Wer will mit?“

      „Och, Fernsehen, immer dasselbe!“ murrte ein anderer. Die Mutter wartete ab. Sie selbst hatten keinen Fernsehapparat.

      „Nee, wir bleiben lieber! Hier ist es lustiger als vor dem Glotzkasten!“ sagte der kleine dicke Rolf, der vorhin so eifrig Schuhe sortiert hatte, daß ihm der Schweiß über die Stirn gelaufen war. „Jetzt spielen wir noch was Neues!“

      Die Mutter lachte. Und dann erlaubte sie Anschlagverstecken durch die ganze Wohnung. Das durfte nur an hohen Festtagen gespielt werden, denn hinterher sah es im Flur und in den Schlafzimmern und überall aus wie nach einer Türkenschlacht. Dafür aber fanden alle Gäste ohne Ausnahme, daß es so schön wie noch nie gewesen sei.

      „Jaja, und kommt mal wieder!“ sagte die Mutter beim Abschied zu den Gästen ihres kleinen Sohnes. Als alle draußen waren, fiel ihr das Geburstagskind um den Hals.

      „Fein war’s!“ sagte es, und dann durfte es sich noch eine Geschichte aus dem großen Märchenbuch wünschen, die die Mutter vorlas, als die beiden Geschwister schon im Bett lagen.

      „Ich glaube, einen Tag lang operieren ist auch nicht anstrengender“, dachte die Mutter, als sie endlich, endlich das Licht gelöscht hatte und hinausging. „Kinder sind zäh und haben eine Lebenskraft — alle Achtung!“ Sie seufzte und lächelte, setzte sich ans offne Fenster und schnappte nach Luft.

      Cary und Egbert schliefen noch nicht.

      „Du wolltest ja eigentlich ganz ohne uns feiern“, stichelte Cary. Sie konnte es nicht lassen. Tagsüber hatte sie es hübsch gefunden, daß sie mitmachen durfte, jetzt bestand keine Gefahr mehr, daß er sie hinauswies.

      „Na ja, eigentlich“, sagte Egbert gedehnt. „Aber du wärst doch sonst traurig gewesen.“

      „Ach du, deshalb!“ Darauf fiel Cary nicht herein. Aber Egbert war mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders.

      „Weißt du, bei Tante Fricke spielen wir dann immer Versteck mit dem Dackel, mit der Hexe. Das wird erst lustig!“

      „Bestimmt. Freust du dich auf Tante Fricke?“

      „Klar! Du?“

      „Ich auch.“

      „Weißt du was? Ich hab’s herbeigewünscht“, sagte Egbert. Es klang leise, verschwörerisch, eindringlich. „Man kann so etwas ’ranwünschen. Weißt du, welches Märchen anfängt: ‚In der Zeit, da das Wünschen noch half ..‘“

      „Natürlich weiß ich’s. Das vom Froschkönig“, sagte Cary.

      „Siehst du, und das hab’ ich versucht. Ich hab’ mir so, so sehr gewünscht, daß es bei uns anders wird und nicht immer so bleibt, wie es jetzt ist!“

      „Du meinst, daß wir zu Frickes kommen?“

      „Ja. Auf jeden Fall sollte alles anders werden. Und spannend. Und so — und nun hat Tante Fricke einen Dackel —“ es klang triumphierend. Cary schwieg einen Augenblick.

      „Und du meinst, das hast du herbeigewünscht?“

      „Ja. Aber man muß ganz richtig wünschen, ganz sehr! Man muß — ich habe die Daumen in die Fäuste eingeschlagen und die Augen zugemacht und gewünscht, gewünscht — mit allen Kräften gewünscht ...! Daß es ein schöner Geburstag wird und daß ich was Feines krieg’ — denk mal, den Frosch! Mit dem erschreck’ ich morgen unser Fräulein. So was Schönes hab’ ich noch nie bekommen. Und daß alles anders wird. Nun ist es sofort eingetroffen!“

      „Hm. Aber wenn es nun nicht so schön wird bei Frikkes?“ fragte Cary bedenklich.

      „Na, wenn schon! Dann kommen wir halt wieder heim!“

      „Eben nicht!“ rief Cary überlegen. „Das weißt du nur nicht. Hierher ziehen inzwischen Jörg und Reinhard, hat Mutter gesagt. Weil es nirgends Studentenbuden gibt! Die können den Sommer über hier wohnen. Da ist gleich jemand in unserm Haus. Und sie bringen noch zwei Freunde mit. Nein, zurück können wir nicht, bevor das halbe Jahr um ist.“

      „Ach.“ Egbert wartete einen Augenblick. Dann sagte er entschlossen: „Wenn wir jeden Tag mit der Hexe spielen dürfen, will ich gar nicht zurück. Und den Roller nehm’ ich mit und den Ball. Und den Frosch natürlich. Was meinst du, wie Tante Fricke vor dem Frosch erschrickt! Ich setz’ ihn ihr in die Küche — oder auf den Eßtisch. Und Onkel Fricke erst! Der wird zusammenfahren!“

      „Na, ich kann mir das vorstellen!“ Cary kicherte leise, und Egbert lachte laut. Die Mutter klopfte an die Tür.

      „Jetzt aber Ruhe da drinnen, verstanden? War der Tag nicht lang genug?“