Inger Gammelgaard Madsen

Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3


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atmete, als wäre er gerannt. Es war Raureif in seinem Bart und seine Augen tränten. Entweder war er gerade nach Hause gekommen oder seine Frau hatte ihn heimbeordert. Sie stand hinter ihm und reckte den Hals.

      »Also Papa!«, rief Dorthe und sah wieder mürrisch aus, bestimmt weil sie als Kind bezeichnet wurde.

      »Ich bin mit dem Gespräch fertig. Aber gut, dass Sie zu Hause sind. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, würde ich mit Ihnen auch gerne ein wenig reden.« Roland lächelte die Kinder an. Er hätte sie gerne noch mehr gefragt, aber das drohende Gesicht des Mannes fast einen halben Meter über seinem eigenen bewirkte, dass das warten musste.

      »Wenn ich das richtig verstanden habe, haben Sie bei Ihrer Suche letzte Nacht keine Spuren gefunden«, sagte er, als sie in das Wohnzimmer mit dunklen Möbeln gegangen waren. Sie baten ihn nicht, sich zu setzen, und taten es selbst auch nicht.

      »Leider nicht. Es gab keine Fußspuren. Zu dem Zeitpunkt hat es ja viel geschneit. Oder die Psychopathen sind den Reifenspuren auf der Straße gefolgt. Vielleicht hatten sie das Auto in der Nähe stehen.«

      Roland entschied, ihnen keine Vorwürfe zu machen, dass sie am Tatort herumgelaufen waren. Fand es jetzt zwecklos. Hier auf dem Land war es wohl nur natürlich, dass sich die Nachbarn halfen, und Finn Geisler würde seinen Standpunkt ohnehin nicht verstehen.

      »Sie waren also die Ersten am Tatort?«

      Der Mann setzte sich schwer aufs Sofa und zog die dicken Lammfellhandschuhe aus. »Es war schrecklich, ihn so zu finden. Wären wir nur ein bisschen eher dagewesen ... aber ich habe sofort die Polizei gerufen.«

      Roland nickte anerkennend.

      »Sie haben sie also noch nicht gefunden?«

      »Leider nicht. Sie haben auch kein an der Straße geparktes Auto bemerkt?«

      »Nein, wir können die Straße ja nicht sehen.«

      Ellen setzte sich neben ihren Mann. »Ich glaube, ich habe alles gesagt, was wir von letzter Nacht wissen, daher ...«

      Roland legte seine Visitenkarte auf den Tisch. »Sollte Ihnen noch etwas einfallen«, schloss er und deutete auf die Karte.

      Ella Geisler begleitete ihn in den Flur und verabschiedete sich höflich, bevor sie ihn hinaus in die Kälte wies und schnell die Tür hinter ihm schloss. Er rieb die Handschuhe gegeneinander, klappte den Kragen hoch und schaute nach oben in den Schnee, der so herumwirbelte, sodass ihm ganz schwindelig wurde. Das Auto war fast zugefroren, sodass er den Eiskratzer benutzen musste, bevor er weiterfahren konnte. Über dem Dachfirst von Vagn und Olga Mortensens Hof konnte er flüchtig die Baumwipfel des Waldes sehen.

      »Der Zauberwald«, murmelte er mit einem kleinen Lächeln. Wer war der Junge, der einst ertrunken war, falls es ihn überhaupt gab? Oder war das nur eine Erfindung verzweifelter Eltern, um ihre Zwillinge nicht in einem Waldsee zu verlieren?

      10

      Obwohl draußen hinter den dunklen Gardinen der Schneesturm wütete, war es hier drinnen unter den Lampen warm. Ihre Füße hatten angefangen zu pochen, nachdem sie den ganzen Tag in zu enge Stiefel gezwängt gewesen waren, und als sie nun allein im Studio war, setzte sie sich auf einen kleinen Schemel, den sie benutzten, wenn die Fotoaufnahmen eine sitzende Position erforderten. Sie zog die Reißverschlüsse der Stiefel auf, während sie die Aufstellung von Schmuck und Uhren betrachtete, mit der sie gerade beschäftigt war, und wackelte in den Wollsocken mit den Zehen, sobald sie von dem engen schwarzen Leder befreit worden waren.

      Die Rolex links musste einen Hauch nach rechts verschoben werden, schätzte sie mit ihrem geübten Auge und ihrem Sinn für grafische Komposition. Die Kälte des Steinfußbodens drang durch die Socken, aber sie wirkte auf die gequälten, heißen Füße sehr lindernd. Sie richtete ihre Konzentration wieder auf die Kamera und die Aufstellung. Sie fotografierte eine Serie aus verschiedenen Blickwinkeln. Jetzt waren nur noch zwei Aufnahmen zu machen, dann waren sie fertig mit dem Uhren- und Schmuckkatalog. Aus der kleinen, bescheidenen Küche holte sie sich einen Kaffee, bevor sie mit der nächsten Aufnahme weitermachte. Der Duft von Kaffee und die Fotoausrüstung, die Dunkelheit um sie herum, in der nur die Lampen ihr helles Licht auf die Objekte auf dem Fototisch warfen, und das Sausen des Sturms draußen vor dem Fenster versetzten sie in eine wohlige Stimmung. Es gab nichts Besseres, als hier allein zu sein und sich so zu fühlen, als wäre es ihr eigenes Studio, in das sie ging und arbeitete. Das Zimmer in dem alten Haus im Mejlbyweg, damals ihr Studio, das sie als freiberufliche Fotografin benutzt hatte, war schon längst zur Abstellkammer für all das geworden, wofür sie sonst keinen Platz hatte, und sie konnte nicht verstehen, wie sie früher ohne es ausgekommen war. Die Furcht, dass sie bereuen könnte, im Herbst in der Redaktion gekündigt zu haben, war völlig unbegründet gewesen. Es war ein weitaus besserer Entschluss gewesen, als sie geglaubt hatte. Hier war nichts mit Fotos von unheimlichen Fundstellen, von Tatorten und Toten, die einem schlaflose Nächte bereiten konnten. Pressefotografin würde sie nie wieder werden, jedenfalls nicht zusammen mit einer Kriminalreporterin. Sie hatte gelesen, dass die Redaktion geschlossen worden war, und das hatte ihre Gedanken zurückwandern lassen zu Anne, Thygesen, Britt, Mads Dam und Nicolaj, der nicht mal mit seinem Praktikum fertig geworden war. Sie hatte mehrmals Lust gehabt, Anne anzurufen, um zu hören, was eigentlich passiert war, aber sie hatte mit dem neuen Job so viel zu tun, und es hatte bestimmt auch einen Grund, dass Anne sie nicht kontaktiert hatte ...

      Nach der letzten Aufnahme räumte sie auf, legte die teuren Uhren und den Schmuck in den Safe und setzte sich anschließend auf eine schwarze Lederchaiselongue, die oft von den superdünnen Dessous-Models benutzt wurde, um darauf zu posieren. Pierre-Louis war Experte darin, sich um sie zu kümmern, er war Modefotograf. Er war auch der Boss. Sie war besser mit leblosen Objekten – wenn es nicht gerade Leichensäcke waren –, daher waren sie und Oliver die Produktfotografen.

      Sie zog ihre Haarspange heraus und schüttelte den Kopf. Blondes Haar umgab sie wie eine Seidenwolke und fiel auf ihre Schultern. Ihre Augen fühlten sich trocken davon an, den ganzen Tag in dem grellen Licht zu stehen und sich auf etwas zu fokussieren. Ein Kopfschmerz hämmerte in den Schläfen. Sie massierte sie und legte sich wieder mit geschlossenen Augen auf die Chaiselongue. Es war weit nach Feierabend. Was das betraf, war die Arbeit hier nicht besser als die in der Redaktion, wo es auch oft spät geworden war, aber das machte ihr nichts aus. Sie hatte ohnehin niemanden, zu dem sie nach Hause kam – nur Tarzan, der ihr weiterhin treu blieb, obwohl er eine Katzenklappe in der Tür zur Waschküche hatte und gehen konnte, wohin er wollte. Sie streckte sich und hörte die Tür im Erdgeschoss ins Schloss fallen. Sofort danach hörte sie Schritte, die die Treppe hochkamen. Pierre-Louis sah gar nicht, dass sie da war und auf der Chaiselongue ausgestreckt lag. Er fluchte leise mit französischem Akzent. Sein Vater war Franzose, die Mutter Dänin, aber er hatte jetzt viele Jahre in Dänemark gewohnt und sein Fotoatelier in der Nørrestraße vor sechs Jahren eingeweiht. Es lief gut, die Kunden waren treu gewesen. Trotz der Krise musste Werbung geschaltet werden – oder für manche sogar wegen der Krise.

      »Mensch, Kamilla!«, rief er laut und ließ beinahe die Fototasche fallen. »Hast du mich erschreckt, ich hab dich überhaupt nicht gesehen. Warum liegst du hier im Dunkeln?« Er stellte die Tasche auf dem Boden ab und schaltete das Deckenlicht an, das nicht grell war, sie aber trotzdem die Augen zusammenkneifen ließ. Sie setzte sich auf, plötzlich peinlich berührt darüber, in Socken vor dem Boss dazuliegen, obwohl es spät war und obwohl sie alle ihre Aufträge erledigt hatte.

      »Hallo, Pierre. Entschuldigung. Nur ein bisschen Kopfschmerzen.«

      »Nein, bleib jetzt liegen.« Er verschwand in der Küche und kam mit einem großen Glas Wasser zurück. »Wie ich dich kenne, hast du eimerweise Kaffee getrunken. Hier, trink das.«

      Wenn Pierre befahl, gab es keine Widerrede, daher trank sie das Wasser, während er sie mit seinen dunklen Augen betrachtete, als wäre sie ein Kind, dem sein Lebertran verabreicht werden müsste. Sie reichte ihm das leere Glas, er lächelte zufrieden und stellte das Glas auf den Boden, dann drückte er sie zurück auf die Chaiselongue und setzte sich auf die Kante.

      »Manchmal mache ich mir ein wenig Sorgen um dich. Du mutest dir viel zu viel zu. Gibt es denn niemanden, zu dem du nach Hause musst?«