Angelika Kutsch

Eine Brücke für Joachim


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an die Bikinis in ihrem Koffer. Vermutlich war sie doch zu optimistisch gewesen.

      »Siebzehn Uhr zehn –«, murmelte Lutz vor sich hin, »siebzehn Uhr zehn –« Sie gingen die Dorfstraße entlang, verfolgt vom Gebell der Hofhunde, die mit ihren Ketten rasselten. An der Öffnung des düsteren Halbrunds stand ein Pfahl, der unter der Last der Schilder schier zusammenzubrechen drohte. »Zum Strandbad«, hieß es, »Camping«, »Haus Wattenblick«, »Jugendhof«. Daneben stand ein kleiner Kiosk, der mit Zeitschriften ebenso überladen war wie der Pfahl mit Schildern.

      »Warte«, sagte Lutz, »ich werde nach dem Weg fragen!« Er grub in seinen Hosentaschen nach Kleingeld für einen neuen Krimi.

      Agnes wartete in einiger Entfernung bei den Koffern und fror im Wind.

      »Ein unfreundlicher Patron«, sagte Lutz, als er zurückkam, »man merkt, daß die Saison vorbei ist. Die haben’s nicht mehr nötig. Hoffentlich schickt er uns wenigstens nicht in die Irre!«

      Die Straße sah nicht aus wie ein Irrweg. Schnurgerade führte sie auf den ebenso schnurgeraden Deich zu. Hier schaute Himmel zwischen den Häusern herein, die noch nicht so alt waren. Sie brauchten keine Stütze und standen jedes für sich in weitläufigen Gärten. Ihre Ziegeldächer leuchteten frisch gewaschen nach dem Regen, der Wind wühlte in alten Baumkronen und warf die ersten Blätter auf Rasen und Beete.

      Lutz blieb stehen. Vergeblich suchte er nach Hausnummern. Die Schildchen an den Gartenpforten waren von Efeu überwuchert oder vom Regen verwaschen. Er zählte die Häuser und wies auf einen Bungalow, der auf einem künstlichen Hügel lag. »Nummer zwölf muß nach Adam Riese die Villa da oben sein.«

      Das schöne neue Haus söhnte sie ein wenig aus mit dem Urlaub im »Kuhdorf«. Vielleicht wurde es doch noch ganz nett.

      Ein schmaler Trampelpfad wand sich an einem grünen Lattenzaun entlang, über den mannshohe Sonnenblumen ihre regenschweren Köpfe hängenließen. Das Haus lag auf einer gepflasterten Plattform. Der Eingang war auf der Nordseite, und hier in seinem eigenen Schatten verlor das Haus an Glanz. Neben allerlei Eimern und Schaufeln, Harken und Besen, standen Gummistiefel verschiedener Größen, mehr oder minder verschmutzt, und über eine borstige Matte hatte jemand ein handgemaltes Pappschild gehängt: »Bitte Schuhe abtreten«.

      Nachdem Lutz geklingelt hatte, stieß Agnes ihn in die Seite. »Untersteh dich, ihnen Ratschläge zu geben, wie sie mich behandeln sollen!« Erst nachdem Lutz noch einmal geklingelt hatte, öffnete sich die Tür, einen Spalt nur. In Schlüssellochhöhe schob sich ein blonder Kopf hervor, zuerst ein riesiger, gebauschter Haarknoten mit einer Schleife, dann ein gewaltiger Pony und darunter ein kleines Gesicht mit dunklen Augen.

      Wie auf Verabredung begannen Lutz und Agnes im Takt auf der Matte zu treten. »Guten Tag –«

      »Meine Mutti kommt gleich«, unterbrach das Mädchen, ohne zur Seite zu rücken.

      Agnes und Lutz traten unverdrossen auf der Stelle, und Agnes glaubte, vor Lachen platzen zu müssen. Das war ja ein schöner Empfang.

      Mit einem Ruck, der das kleine Mädchen zur Seite stieß, wurde die Tür weit geöffnet. Den frei werdenden Raum füllte eine rundliche Frau aus. Sie streckte ihnen die kurzen Arme entgegen. »Die Geschwister Frech – willkommen!« sagte sie und noch einiges mehr, was man so zur Begrüßung sagt.

      Sie schob das kleine Mädchen sanft aus dem Weg. »Eigentlich wollte Lenchen dir das Zimmer zeigen, sie freut sich so auf deinen Besuch. Aber ausgerechnet heute nachmittag hat sie Gymnastik. Übrigens, das ist Uschi, meine Jüngste.«

      »Ulla«, verbesserte das Mädchen. Schritt für Schritt gab es den Zugang zur Treppe frei, die ins oberste Stockwerk führte.

      Die Zimmer waren alle schräg, und eins war wie das andere eingerichtet, Waschbecken, Kleiderschrank, billigste Ausführung aus dem Kaufhausangebot, ein dreibeiniges Tischchen, Doppelbettstellen und Fenster, die nur halbrunde Ausgucklöcher waren.

      »Du möchtest sicher ein Zimmer mit Blick aufs Meer«, sagte Frau Brodersen. Agnes fühlte sich an ein Fenster geschoben.

      Pflichtschuldig betrachtete sie die Aussicht. Lange suchte sie das »Meer«. Erst ein vorbeifahrendes Schiff zeigte es ihr; es war genauso grau wie der Himmel, und das jenseitige Ufer, das es laut Landkarte noch in sichtbarer Nähe geben mußte, verschwamm im Dunst. Wenn sie sich vorbeugte, konnte sie den Pfad sehen, den sie eben heraufgekommen waren. Am Fuß des Hügels lag ein Haus, das sie vor lauter Sonnenblumen übersehen hatte. Wie frisch gestutzte Stirnfransen stülpte sich das Strohdach über die kalkweißen Wände.

      »Taprogges Haus ist das meistfotografierte im Dorf«, erklärte Frau Brodersen, stolz über so prominente Nachbarschaft.

      »Schön«, sagte Lutz, »sehr schön.« Und das Schiff draußen stieß wie zur Bestätigung ein nachdrückliches Tuten aus.

      Agnes sah auf die Uhr. »Du mußt jetzt gehen«, sagte sie.

      Lutz klopfte ihr auf die Schulter. »Mach’s beste draus«, flüsterte er ihr zu und ging schnell hinaus.

      Frau Brodersen folgte ihm. »Wir sind immer für Agnes da«, versprach sie.

      Die Tür blieb einen Spalt offen, und Agnes hörte, wie Lutz sagte: »Sie ist nur übermüdet von der Zugfahrt – eigentlich furchtbar brav –« Alles konnte sie nicht verstehen, aber es genügte, um sie wütend zu machen. Na wartet, dachte sie, ihr werdet noch Augen machen!

      »Keine Sorge, ich hab’ Erfahrung mit diesem Alter.« Frau Brodersen redete ungeniert laut. »Ich bin froh, daß mein Lenchen Gesellschaft bekommt. Sie liegt mir schon lange in den Ohren, ich solle mal jüngere Pensionsgäste nehmen. Aber das junge Volk will ja nicht aufs Land. Und ich hatte auch so meine Bedenken. Man fühlt sich ja schließlich verantwortlich.«

      Agnes starrte zornig aus dem Fenster. Das Schiff hatte den Bildausschnitt verlassen. Gähnende Leere, eine Mischung von grau und grün. Dann erschien Lutz, das einzige menschliche Wesen in der trostlosen Landschaft. Am Zaun drehte er sich noch einmal um. Er winkte.

      Agnes rührte keine Hand. Sie drehte sich um und stand Frau Brodersen gegenüber. Sie glaubte wohl, so etwas wie Abschiedschmerz in Agnes’ Miene zu entdecken, und sagte herzlich: »Wir werden es uns so richtig schön machen! An uns soll es nicht liegen!«

      Agnes schwieg abweisend.

      »Ich muß jetzt nach dem Essen sehen«, sagte Frau Brodersen, »Donnerstag ist mein freier Nachmittag. Da gibt es immer etwas besonders Gutes. Komm herunter, wenn du ausgepackt hast. Bis dahin wird auch Lenchen da sein!«

      Endlich allein! Im Handumdrehen hingen die Kleider im Schrank. Auf der Glaskonsole über dem Waschbecken standen ihr Zahnbecher und ihr Deodorant, unter dem Bett lugten ihre Pantöffelchen hervor, und immer noch war es nicht ihr Zimmer. Auf dem Tisch lag ihr eigentlicher Besitz, den sie immer mit sich herumtrug, ein kunterbuntes Durcheinander von geliebtem, unnützen Krimskrams. Am Fußende des Bettes lag Lutz’ Kameraausrüstung.

      Eigentlich nett von ihm, ihr den teuren Apparat für den Urlaub zu geben. Oder hatte er ihn ihr nur gegeben, weil sie noch so krank war? In einem unbeobachteten Augenblick hatte er einige Taschenbücher auf den Nachtschrank gelegt. Verächtlich stopfte sie die Bücher in eine Schublade. Seit Monaten hatte sie gelesen, tagaus, tagein, jetzt hatte sie Urlaub. Jetzt wollte sie all das erleben, was sie bisher nur gelesen hatte. Energisch drehte sie den Wasserhahn auf. So sehr sie auch an dem Hahn mit dem roten Knopf drehte, das Wasser blieb kalt. Sie wollte nicht nur den Reiseschmutz abwaschen, sie wollte Abstand schaffen zwischen sich und Lutz, Zuhause, dem Krankenhaus ...

      Als sie mit dem Waschen fertig war, merkte sie, wie müde sie war. Nur einen Augenblick hinlegen, dachte sie, Kräfte sammeln, noch heute abend gehe ich aus, vielleicht mit dieser Leni oder wie immer sie heißen mag. Vom Bett aus konnte sie den Himmel sehen, graue Leere mit dunkleren Tupfern, und plötzlich war sie eingeschlafen. Als jemand an die Tür klopfte, um sie zum Essen zu holen, mochte sie die Augen gar nicht mehr öffnen. »Morgen«, murmelte sie und zog sich die Bettdecke über die Ohren.

      II

      Es