Angelika Kutsch

Eine Brücke für Joachim


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die Stille, sie glättete die Wirbel, ließ die Farben verblassen.

      Agnes kam langsam zu sich, spürte das steife, fremde Laken. Es war so glatt, als habe sie sich die ganze Nacht überhaupt nicht gerührt. Wie viele Tage und Nächte hatte sie so gelegen, auf dem Rücken, die Beine ausgestreckt, bis zu den Hüften in Gips, und jedesmal, wenn sie erwachte, kehrte die Unsicherheit in ihr Bewußtsein zurück: Werde ich je wieder gehen können? Vorsichtig zog sie ein Bein an. Es ließ sich bewegen. Immer, wenn sie aufwachte, fürchtete sie, daß sie nur geträumt hätte, wieder gehen zu können.

      Im ersten Augenblick wußte sie nicht, wo sie war. Ihr Blick ging automatisch zum Kopfende, dahin, wo sie früher im Krankenhaus den alten Autorückspiegel angebracht hatte, ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Er hatte einen Ausschnitt der Straße gespiegelt, Autodächer, Leute mit kurzen Beinen und großen Köpfen. Ihr Zimmer hatte im ersten Stock gelegen. Später hatte sie nur noch Beine gesehen, die dichtbelaubten Bäume hatten die Körper verdeckt, Beine, die es eilig hatten, besonders, wenn sie das Krankenhaus verließen.

      Jetzt blickte sie gegen durchsichtige Blätter, die in rosigem Dämmern schwammen. Träumte sie doch? Mit einem Ruck setzte sie sich gerade auf und schlug sich den Kopf an der Dachschräge an. Richtig, sie war am »Meer«. Die Vorhänge waren durchglüht von einem geheimnisvollen Licht. Irgend jemand mußte sie zugezogen haben, während sie schon schlief. Neben ihr auf dem Nachttisch stand ein Glas mit gelbem Saft.

      Entschlossen stieg Agnes aus dem Bett und zog die Vorhänge zurück. Das gleißende Sonnenlicht auf dem Wasser blendete sie. Sonne – Wasser! Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Wenn Engel reisen ... würde Frau Wilkens jetzt sagen.

      Agnes wusch sich tapfer mit dem kalten Wasser und konnte gar nicht schnell genug in die langen Hosen kommen. Hinaus in die Sonne! Aber die Stille im Haus machte sie stutzig. Vielleicht war es noch zu früh? Vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, öffnete sie die Tür. Vor ihren Füßen lag etwas Helles. Agnes hob den Zettel auf. »Guten Morgen!« stand darauf, ein weiterer Zettel mit einem dicken blauen Pfeil wies die Treppe hinab, und unten lag mitten im Flur der Hinweis »Kaffee«. Der Pfeil zeigte in die Küche, wo eine Ecke des Tisches für sie gedeckt war. »Schade«, stand auf dem Zettel, der an der Thermoskanne lehnte, »daß du so eine Schlafmütze bist.« Und darunter: »Lena.« Agnes schichtete die Papiere neben ihrem Frühstücksteller, der Grundstock ihrer Urlaubserinnerungen. Nun tat es ihr doch leid, daß sie das Mädchen Lena gestern abend verpaßt hatte.

      Der Kaffee aus der Thermoskanne schmeckte schal, und auch das Ei, das unter einer Miniaturpudelmütze steckte, war nicht mehr warm. Agnes beeilte sich mit ihrem Frühstück.

      Sie ging noch einmal in ihr Zimmer, um die Badetasche zu packen, Bikini, Handtuch, einen Kamm. Einen Augenblick stand sie vorm Spiegel und zupfte ungeduldig an ihrem Haar. Es ärgerte sie, daß es in den letzten Wochen nicht schneller gewachsen war. Lange Haare waren für sie ein Inbegriff von Romantik und Gesundheit. Monatelang hatte sie einen Stoppelkopf gehabt, von der Mutter regelmäßig nachgeschnitten. Kurzes Haar war ja so praktisch im Krankenbett. Seitdem hielt Agnes kurzes Haar für ein Zeichen von Krankheit. Je länger ihr Haar wurde, desto wohler fühlte sie sich. Jetzt konnte sie es schon über den Ohren mit einem Gummiband zu abstehenden Rattenschwänzen zusammenbinden. Zu Hause hätte sie sich damit nicht auf die Straße getraut, aber im Urlaub ist alles erlaubt. Die Sonnenbrille nicht vergessen! Sie hatte riesige Gläser, die die halbe Stirn bedeckten und ihr ein interessantes Aussehen gaben – fand Agnes.

      Die Straße war leer. Auf einem Torpfosten saß eine Katze mit eingeschlagenem Schwanz und blinzelte in die Sonne. Als Agnes sie streicheln wollte, sprang sie in den Garten jenseits des Zaunes.

      Agnes hielt auf den Deich zu. Eine hölzerne Treppe führte auf seine Kuppe, aber etwas weiter rechts gab es einen schmalen Durchbruch, den auch Autos passieren konnten. Agnes wählte den bequemeren Weg, und dann lag das »Meer« vor ihr. Kein Rauschen, kein Heulen. Die Straße führte hinab zu einem kleinen Hafenbecken, dessen Kaimauern schief und baufällig aussahen. Das Wasser war weit zurückgetreten. Der bloßgelegte Schlick glänzte in der Sonne. Nur in der Fahrrinne stand noch ein wenig Wasser. Was mochten hier für Schiffe anlegen?

      Gleich neben dem »Hafen« war ein Campingplatz. Eingepfercht in einem Drahtzaun standen die Wohnwagenanhänger wie geduldige Schafe.

      »Strandbad« verkündete ein abblätterndes Schild an einem Drehkreuz, dahinter ein Häuschen mit verschlossenen Läden. Die Anschläge waren zerrissen und kaum noch zu lesen. »Badeordnung«, »Bitte beachten«, »Badeschuhe verloren!« »Strandkörbe zu vermieten!« Von Strandkörben keine Spur. Ungehindert passierte Agnes die Kasse (Erwachsene zweifünfzig, Kinder eine Mark). Der Spielplatz war leer, die Schaukeln schwangen hin und her, und das Karussell quietschte leise, wenn der Wind ihm einen Schubs gab.

      Agnes prüfte den Sand und überlegte, ob sie die Schuhe ausziehen sollte. Zu einem Spaziergang an der See gehörte Barfußgehen. Aber der Sand sah nicht einladend aus, grau, hart, hier und da stach Reit aus der vom Wasser glattgeleckten Oberfläche, und auch sonst lag allerhand herum, das Füßen empfindlich weh tun konnte. Das große Aufräumen nach der Saison hatte offenbar noch nicht stattgefunden.

      Der Sandstrand war nur kurz. Dahinter dehnte sich endlos der grüne Deich, in sanftem Bogen umschloß er die Flußmündung, so daß sie aussah wie eine Bucht. Weit draußen glitten Schiffe vorbei, die so klein aussahen, daß Agnes meinte, sie in der hohlen Hand halten zu können. Der Boden am Uferrand war schwarz wie im Hafen, geädert von vielen kleinen Prielen. Agnes hatte einmal gehört, daß Wattlaufen sehr gesund sei. Wenn sie schon nicht baden konnte, wollte sie wenigstens wattlaufen! Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Schon beim ersten Schritt sank sie bis tief über die Knöchel in den kalten, feuchten Schlick, der ihren Fuß nur widerwillig und mit leisem Schmatzen wieder freigab. Bei jedem Schritt sank sie tiefer. Schon reichte die schwarze Schicht bis unters Knie. Agnes gab auf. Sie kehrte ans Ufer zurück.

      Der Wind trocknete den Schlick rasch zu einer harten, grauen Kruste. Agnes hätte sich am liebsten ins Gras gelegt und geheult vor Wut über den verdorbenen Urlaub. Was blieb denn noch? Wasser gab es keines, kalt war es und Wattlaufen geriet zum Schlammbad. Was hatte sie nur erwartet? Es war doch ganz klar, daß Frau Wilkens von all dem nichts wußte. Sie besaß sicher keinen Badeanzug. Ihr Urlaub beschränkte sich vermutlich auf ausgedehnte Deichspaziergänge und abendliches Fernsehen bei Brodersens.

      Agnes klaubte ihre Sachen zusammen und humpelte durch den Sand. In der Nähe des Spielplatzes fand sie einige Wasserhähne, man war also eingerichtet auf schmutzige Füße. Wenigstens das.

      Was nun? Der Tag war noch lang. Sie bummelte durchs Dorf. Bei der Kirche begegnete sie den ersten Menschen, alte Männer in ausgebeulten Hosen, die das Kopfsteinpflaster mit Strohbesen bearbeiteten. Von irgendwoher kam Kindergeschrei. Die Schule mußte ganz in der Nähe sein. Es war gerade Pause. Agnes ging dem Geschrei nach und spähte durch die Gitterstäbe. Kein Kind war älter als zwölf, dreizehn Jahre.

      Während sie noch den tobenden Haufen betrachtete, gewahrte sie Brodersens Jüngste, die sich, ein riesiges Butterbrot in der Hand, dem Zaun näherte. Stumm kauend sah sie Agnes an.

      »Guten Morgen«, sagte Agnes betont fröhlich. »Schmeckt’s?« Die Kleine verzog nur den Mund.

      »Wo ist denn deine Mutter?«

      »Arbeiten.«

      »Und wann kommt sie wieder?«

      »Spät!« Ulla machte auf dem Absatz kehrt und ließ Agnes stehen. Wohin bin ich geraten, dachte sie, die Kinder sind so komisch wie die Katzen. Niemand will etwas von mir wissen.

      Ehe sie sich’s versah, hatte sie die Dorfgrenze erreicht. Die Schilder am Straßenrand wiesen in die Kreisstadt. Eine reizvolle Idee, die Koffer zu packen und heimzufahren. Zu Hause konnte sie sich wenigstens noch im Windschatten der weinumrankten Gartenmauer sonnen. Plötzlich hupte es neben ihr, und gleichzeitig quietschten Reifen. Agnes erschrak und machte einen großen Schritt zur Seite. Der Straßenrand gab unerwartet nach. Sie verlor das Gleichgewicht. Sie schwankte, fiel vornüber und konnte sich im letzten Augenblick im Gras an der jenseitigen Böschung abstützen. Ihre Haltung war sicher nicht sehr elegant.