Angelika Kutsch

Eine Brücke für Joachim


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Kindern und einem anstrengenden Job. Sie war Kassiererin in einem Supermarkt, das hatte sie sich in ihrer Jugend weiß Gott nicht träumen lassen. Aber was soll man machen? Nichts gelernt, außer einen Mann und später die Kinder zu bemuttern, geschieden, plötzlich ist alles anders, ein Haus ist da, aber das Geld reicht nicht hin und nicht her, schließlich soll aus den Kindern mal was Ordentliches werden. Da nimmt man jeden Job, der sich bietet.

      Agnes hörte schweigend zu und hatte den Eindruck, daß Frau Brodersen trotzdem nicht gar so unzufrieden war. Es war immerhin eine verantwortungsvolle Sache, so eine Kasse, und dann zu Hause die beiden Mädchen. Das waren Aufgaben! Was war sie denn? Sie lebte in den Tag hinein, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was nach dem Urlaub kam. Irgendwann mußte sie sich entscheiden. Zu Hause hatten sie das Thema ängstlich gemieden. So, wie sie nie wieder ein Auto besteigen wollte, konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder ins Büro zurückzukehren zu denselben Leuten, die auch Herrn Döpke gekannt hatten.

      »Können wir nicht von was anderem reden?« maulte Lena. »Immer dieselbe Leier! Das Geschäft, das Haus, die Kinder ...«

      »Du könntest mir das Dorf zeigen«, schlug Agnes vor. »Ich hab’ heute morgen wenig davon gesehen.«

      »Müßt ihr gleich am ersten Tag weglaufen? Ich dachte, wir machen uns einen schönen Abend«, sagte Frau Brodersen weinerlich.

      »Solche Abende kenne ich«, flüsterte Lena und klapperte kräftig mit dem Besteck, damit es nicht bis zur Mutter drang.

      »Was macht man abends? Gibt es denn kein Nachtleben für Kurgäste?« fragte Agnes ironisch. Jetzt hatte sie sogar Lena gegen sich.

      »Willst du uns auf den Arm nehmen? Wir leben auf einem Dorf, am Ende der Welt, sage ich immer! Wenn du dich amüsieren willst, mußt du in die Stadt fahren.«

      »Aber nur sonnabends!« sagte Frau Brodersen streng. »Und um zehn seid ihr zu Hause! Ich trage die Verantwortung!«

      »Heute ist doch erst Freitag! Du brauchst dich erst morgen aufzuregen«, brummte Lena.

      »Jetzt werd nur nicht frech! Sonst kommst du morgen gar nicht weg! Merk dir das!« Frau Brodersens Stimme verstieg sich schnell zu riskanten Höhen. »Du vergißt immer, daß du hier nicht eine deiner Freundinnen vor dir hast!« Gespräche dieser Art hatte es bei Agnes zu Hause schon lange nicht mehr gegeben, obwohl sie ihr nicht vollkommen neu waren. Lag das auch an ihrer Krankheit?

      »Also machen wir uns einen schönen Abend zu Hause«, sagte Lena einlenkend. »Aber den Plattenspieler drehen wir so laut, wie wir wollen!«

      Frau Brodersen seufzte, aber sie erhob keinen Einspruch. Später brachte sie ihnen sogar ein Tablett mit Saft und Gebäck und sorgte dafür, daß Ulla draußen blieb.

      Der Plattenspieler röhrte. Lena saß auf dem Bett, das gleichzeitig als Couch diente, und ruckte rhythmisch mit dem Oberkörper. Wie jung sie noch ist, dachte Agnes beim Zusehen. Frau Wilkens scheint nicht zu wissen, wieviel drei Jahre Altersunterschied ausmachen, als sie mir vorschwärmte, wie gut wir zusammenpassen werden. Was soll ich mit ihr anfangen? Und sie mit mir?

      Was sollte sie mit Lena reden? Agnes mußte nicht nur Selbständigkeit lernen, wie der Arzt meinte. Sie mußte auch lernen, mit anderen zu reden, auf sie einzugehen. Im Krankenhaus hatte sie in einem Dreibettzimmer gelegen mit lauter schwierigen Fällen, die nicht von heute auf morgen entlassen wurden. Als sie einander noch nicht so gut kannten, hatten sie sich dieses und jenes von ihrem Leben »draußen« und »vorher« erzählt. Aber bald war alles gesagt. Was vorher gewesen war, wurde schnell unwichtig. In der weißen, sterilen Atmosphäre des Krankenhauses, die nicht nur Infektionen von ihnen fernhielt, lösten sich die Probleme nicht auf, aber sie wurden verdrängt und überlagert vom täglichen Einerlei.

      »Kannst du das Ding nicht leiser drehen?« bat sie Lena schließlich. Lärm, laute Musik waren ihr auch zuwider seit der Krankenhausstille.

      »Magst du keine Musik?« Lena war enttäuscht.

      »Wir wollen uns lieber was erzählen!«

      Das wirkte. Lena drehte die Musik leiser. Sie beugte sich vor. »Ich wollte dich sowieso was fragen. Aber ich dachte, gleich am ersten Tag ...!«

      »Frag ruhig!« Agnes lächelte mütterlich.

      »Meine Mutter tat so geheimnisvoll, als hättest du wunders was hinter dir. Wir sollten bloß nett zu dir sein, hat sie uns eingeschärft, Rücksicht nehmen. Manchmal behandelt sie mich wirklich wie ein Baby, anstatt mir gleich alles zu sagen! Hast du eine unglückliche Liebesgeschichte hinter dir oder was?«

      »Ich muß dich enttäuschen«, sagte Agnes ironisch, »es war nur ein Autounfall, wenn sie das meinte.«

      »Ach das!« Lena sah wirklich enttäuscht aus. »Autounfälle ereignen sich alle Tage.«

      »Unglückliche Liebesgeschichten auch!«

      Lena zuckte mit den Schultern. »Das hat sie uns übrigens erzählt mit dem Unfall. Sag mal, hast du schon einen Freund?«

      »Ich war lange im Krankenhaus. Und du?«

      »Wie soll ich einen finden? Mutter läßt mich ja nicht aus den Augen! Sonnabends um zehn zu Hause! Der Bus braucht eine halbe Stunde. Da hat man ja kaum Zeit, jemanden kennenzulernen, und wenn man einen findet, hält es nie lange. Wenn die erst hören, daß ich hier draußen wohne, springen sie ab. Eine vom Land will keiner haben. Bei denen mit Auto habe ich sowieso keine Chance. Ich lerne bloß immer welche mit Fahrrad kennen.«

      Agnes unterdrückte ein Lachen. »So in zwei, drei Jahren wird’s schon klappen!«

      Lena wurde wütend. »Jetzt redest du wie meine Mutter! Sag mal, bist du denn nicht auf meiner Seite?«

      Agnes versuchte sie zu beruhigen und wußte doch nicht, auf welcher Seite sie eigentlich stand. Nicht Fisch, nicht Fleisch, hatte Frau Wilkens einmal gesagt und sie gemeint, als sie in einem schwierigen Alter war. Aber das war doch jetzt vorbei? Ihre früheren Klassenkameradinnen hatten den Sprung geschafft, sie standen auf der anderen Seite, flotte Mädchen mit wallenden Haarfluten, die abends von ihren Freunden mit Auto vom Büro abgeholt wurden. Von ihnen würde sich niemand mehr mit diesem Küken da abgeben. An allem war der Unfall schuld. Er hatte sie zurückgeworfen. Aber sie wollte Lena ihre Überlegenheit nicht spüren lassen. Lena war schließlich die einzige, mit der sie etwas unternehmen konnte in diesem Kaff.

      »Such dir doch einen Schwarm hier im Dorf«, schlug sie ihr vor, »dann wäre das Problem mit dem Fahrrad gelöst. Hier kann man alle Wege zu Fuß machen und braucht auf keine Busse zu warten.«

      »Im Sommer habe ich immer einen Schwarm. Da kommen viele tolle Typen, sage ich dir, Segler, weißt du, braungebrannt und mit weißen Hosen. Aber im Winter ist es langweilig. Die von den Kuttern kenne ich. Das sind blöde Kerle. Kaum sind sie an Land, schon sind sie betrunken. Und die anderen, die sind einfach nicht spannend. Die kennt man eben zu gut.«

      »Was ist mit dem Jungen, der die Zeitungen verkauft?«

      »Achim?«

      »Was weiß ich, wie er heißt. Er sieht doch ganz nett aus, oder?«

      »Na ja.«

      »Was hast du gegen ihn? Er hat schöne Augen!«

      »Wenn’s nur darauf ankäme«, brummte Lena.

      »Worauf kommt es denn an? Ich schaue immer zuerst auf die Augen.«

      »Er muß einem schon im ganzen gefallen, so von oben bis unten! Für so einen schwärmt man eben nicht.«

      Das leuchtete Agnes ein. Sie hatte auch nie für Jungen geschwärmt, die sie von klein auf kannte, das waren Rotznasen, freche Bengel, bestenfalls gute Spielkameraden. Aber wenn eine neue Familie einzog in der Straße, das war ein Ereignis, und wenn sie einen Sohn hatten, wurde er leicht zum Traumprinzen, bis er eines Tages mit der anderen Meute im Abenddämmern auf der Straße tobte, einen anrempelte und genauso dumme Redensarten nachrief wie die anderen.

      »He«, sagte Lena, »du hörst mir ja gar nicht zu!« Sie tippte Agnes auf die Schulter.