Hanne-Vibeke Holst

Nächsten Sommer


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Dinge als DNS-Moleküle und Fruchtfliegen.

      Den ganzen Nachmittag hatten sie auf ihrem Bett gelegen und geredet und geschmust und ein bisschen geküsst. Als Louises Mutter kam und fragte, ob Anders nicht mitessen wollte, hatten sie noch kein Buch aufgeschlagen.

      Das Abendessen war sehr lustig gewesen. Louises Mutter hatte sich mit dem Essen besondere Mühe gegeben, sie hatten Eis mit selbst eingemachten Brombeeren bekommen, mit denen sie sonst sehr knauserte. Louise konnte sehen, dass Anders ihrer Mutter sofort gefiel, und auch er entspannte sich, obwohl er sich Sorgen gemacht hatte, dass er »Umstände machen« könnte. Zum Glück war Louises Vater nicht zu Hause, er konnte ihren Freunden gegenüber so grob werden. Richtig gemein und ätzend. Einige hatte er schon wegekeln können und vielleicht war das auch sein Ziel gewesen.

      Ihre kleine Schwester Liz hatte freiwillig den Abwasch übernommen.

      »So verknallt, wie du bist, lässt du das Geschirr ja doch bloß fallen«, hatte sie gesagt und Louise aus der Küche geworfen.

      Verliebt? War es möglich, sich in einer Nacht zu verlieben? War es möglich, sich in einen Klassenkameraden zu verlieben, den sie seit zwei Jahren jeden Tag gesehen hatte?

      Andererseits hatte sie einen dreitägigen Orkan durchgemacht, nur einen halben Joghurt und einen Apfel gegessen und sechzig Zigaretten geraucht. Sie hatte sich nur auf Anders konzentrieren können und war den Anmachen der anderen gegenüber kalt geblieben. In den Stunden starrte sie einfach nur seinen Nacken an, der ihr als das Vollkommenste erschien, was sie je gesehen hatte.

      Leider war sie blöd genug gewesen Stine zu erzählen, dass sie Anders für ein göttlich schönes Geschöpf hielt, objektiv gesehen. Stine hatte nur herablassend losgeprustet. Sie fand es sehr komisch, dass Louise litt, weil sie nicht mit Anders gesprochen hatte und einfach nicht wusste, wie er zu ihr stand. Als Louise ihr Gefühllosigkeit vorwarf, sagte Stine, dass es wirklich an der Zeit war, dass Louise einmal vor Ungewissheit stöhnen musste.

      »Aber Stine, meinst du denn, ihm geht’s genauso?«, jammerte sie und Stine betrachtete sie nachsichtig.

      »Süße, sperr doch mal die Gucklöcher auf! Der ist stoned! Armer Mann, der ist glatt in die Falle gelatscht. Hätte eben mich nehmen sollen.«

      Aber Louise war erst überzeugt, als Anders in der Pause zu ihr kam, als sie allein am Kaffeeautomaten stand, und ihr einen zerknüllten Zettel reichte.

      »Die Französische Revolution, Einkommenspolitik und ihr Einfluss auf die Zahlungsbilanz, schlaflose Nächte und du, du, du. Wann können wir uns sehen? A.«

      Seit gestern hatte sie den Zettel schon tausendmal gelesen, er war inzwischen ganz abgegriffen und durchsichtig. Das war sie auch. Durchsichtig. Sie begriff nicht, was er mit ihr machte, aber schon beim bloßen Gedanken an ihn lief es ihr heiß und kalt über den Rücken. Also war sie vielleicht verliebt?

      »Diesmal wird’s eben einfach nichts.« Anders legte den Kugelschreiber beiseite und steckte die Blätter in eine Plastikhülle. »Und jetzt muss ich nach Hause.«

      »Du kannst doch hier schlafen?«, schlug Louise vor. Sie stand hinter ihm und hatte die Arme um seinen Hals gelegt.

      »Aber ich muss doch um sechs Uhr zum Füttern aufstehen«, erwiderte er.

      »Steh einfach früh auf und fahr nach Hause. Ist doch egal, ob du jetzt oder morgen früh fährst?«

      »Do-och. Ich würde auch lieber in deinen Armen schlafen«, sagte er und zog sie zu sich herunter.

      In diesem Moment hörte Louise, dass das Auto in die Garage gefahren wurde. Also kam ihr Vater nach Hause. Wenn er sich jetzt einmischte, dann würde sie austicken. In der letzten Zeit hatte er sich in alles, was sie machte, eingemischt. Hatte geschimpft und war bei jedem Dreck in die Luft gegangen. Die Mahlzeiten waren zu Schlachten zwischen ihnen geworden, dabei konnte schon »gib mir das Salz« als Kriegserklärung und »bitte sehr, hier ist die Butter« als Antrag auf Waffenstillstand aufgefasst werden. Liz klimperte nervös mit den Wimpern und die Mutter versuchte als diskrete Vermittlerin zu fungieren, wenn sie sich verbissen über alles – vom Preis für ein Pfund Tomaten bis hin zur Rolle der USA in Nicaragua – fetzten.

      Früher hatte immer die Mutter auf sie gewartet, wenn sie lange ausgeblieben war. Entweder, um ihr die Leviten zu lesen, weil Louise zu spät nach Hause kam, oder weil sie nicht schlafen konnte und sich vorstellte, dass Louise vergewaltigt und verstümmelt in irgendeinem Wald lag. Aber jetzt war es der Vater, der mit einem Buch auf dem Schoß vor sich hin döste, wenn sie nach Hause kam.

      Wenn Louise fragte, warum er in aller Welt noch so spät auf sei, dann sagte er, er müsse noch rasch ein Problem lösen oder dass er nachts so gut seine Gedanken sammeln könne.

      Aber das glaubte Louise nicht, denn er fing immer an, sie kreuz und quer auszufragen. Wenn sie sich erkundigte, ob das ein Verhör dritten Grades sein sollte, wurde er wütend und erklärte, er sei nur daran interessiert, was sie mit wem unternahm. Vor allem Letzteres lag ihm sehr am Herzen.

      Er ging ihr tierisch auf den Geist. Liz glaubte, die Midlifecrisis sei schuld daran. Louise war es schnurz, was der Grund dafür war, nur sollte er sie sich selbst überlassen.

      »Du musst dich darauf vorbereiten, den Architekten zu begrüßen«, sagte Louise, als sie die schweren Schritte ihres Vaters auf der Treppe hörte.

      Anders sah sie verwirrt an, aber sie streichelte ihm nur beruhigend über die Haare, als der Vater anklopfte und sie »herein« sagte.

      »Hallo, Mutter hat gesagt, du hättest Besuch und da wollte ich nur schnell Guten Tag sagen«, sagte der Vater und hielt Anders, der ihn höflich begrüßte, die Hand hin.

      »Na, aber du wolltest wohl gerade gehen«, fuhr der Vater fort. »Louise muss ja früh aufstehen und du selber sicher auch. Du kommst vom Land, nicht wahr?«

      Anders’ Blick suchte unsicher Hilfe bei Louise. Sie sammelte all ihren Trotz und ihren Mut und ließ ihren angestauten Aggressionen freien Lauf: »Anders bleibt hier. Er schläft heute Nacht hier.«

      »Ach ja? Das ist ja interessant. Ist deine Mutter darüber informiert?«

      »Nö, aber er soll ja auch nicht in ihrem Bett schlafen«, antwortete Louise und erschrak selbst über ihre Frechheit.

      »Louise, ich möchte gern einen Moment mit dir allein reden.«

      Louise nahm diesen Befehl mit einem Schulterzucken entgegen und ging mit ihm auf den Flur. Doch als sie gerade im Begriff war, hinter ihm die Treppe hinunterzulaufen, blieb sie stehen. Sie wollte nicht länger herumkommandiert werden. Er sollte sie zum Teufel noch mal nicht demütigen und schon gar nicht vor Anders.

      »Vater, hier gibt’s keine Diskussionen. Er bleibt hier«, sagte sie ruhig zu seinem Rücken, der in der Tweedjacke breiter und breirter wurde, bis er sich dann zu ihr umdrehte und sagte: »Louise, du bestimmst nicht in diesem Haus, auch wenn du dich aufführst, als ob dir hier alles gehört. Aber so lange du hier wohnst, hast du dich an einige wenige Regeln zu halten. Ich bin sehr großzügig, deine Mutter ist sehr großzügig, wir haben dich durchaus frei erzogen. Aber es gibt gewisse Regeln . . .«

      Seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut. Louise sah ihn trotzig an und hasste ihn verbissener als je zuvor. Sie verachtete ihn. Aufgeblasener fetter Frosch, reaktionärer Chauvi, konnte nicht ertragen, dass er keine Macht mehr über sie hatte. Darum ging es hier doch. Um Macht und Besitzansprüche. Er glaubte, sein Besitzrecht über einen Haufen Steine und einige teure Designermöbel garantiere ihm auch unbeschränkte Gewalt über sie. Aber das stimmte nicht mehr.

      Louise kniff die Augen zusammen und schüttelte langsam den Kopf. Dann drehte sie sich um, ließ ihn stehen und ging zu Anders zurück.

      »Wir hauen ab«, teilte sie Anders mit, der schon seine Tasche gepackt hatte, an der Tür stand und fluchtbereit wirkte. Louise streifte sich ihren blauen Pullover über den Kopf, stopfte Bücher, etwas Wäsche und ihre Kulturtasche in ihren Rucksack und knipste das Licht aus.

      Auf der Treppe begegnete ihnen niemand, der Vater war offenbar in sein Zimmer gegangen.