Anders erzählte, dass es hier oben massenhaft Mäuse gab, kam Louise der Heuboden absolut nicht mehr so romantisch vor. Sie zogen sich an und bürsteten sich gegenseitig das Heu ab, ehe sie auf den Hof zurückgingen.
»Man kann es dir ansehen«, murmelte Anders diskret aus dem Mundwinkel, als sie über die Pflastersteine gingen und seiner Mutter zuwinkten, die sie lächelnd vom Küchenfenster aus beobachtete.
»Und du hast Heu in den Haaren«, sagte Louise und wurde aber doch rot, als sie am Fenster vorbeigingen.
»Ich kann dir sagen, da hat sie was, worüber sie sich Gedanken machen kann«, sagte Anders und legte Louise den Arm um die Schultern. Aber erst, als sie außer Sichtweite gekommen waren.
»Was sagen sie eigentlich dazu, dass ich so einfach hier hereingeschneit komme?«
»Das finden sie toll. Da besteht doch die Hoffnung, dass ich normal bin und kein Schwuler oder Sonderling. Sie können einfach nicht begreifen, warum ich nicht schon längst eine Freundin habe und verlobt bin wie der Sohn der Nachbarn. Meine Mutter hätte gern eine Schwiegertochter, mit der sie quatschen könnte. Tagsüber sind wir ja nicht so viel im Haus und auch wenn sie zum Nähkränzchen geht und so, ist sie doch viel allein.«
»Wie heißt sie mit Vornamen?«, fragte Louise. Sie wollte Anders’ Mutter gern kennen lernen, weil sie eben Anders’ Mutter war und weil sie so lieb und echt wirkte.
»Åse. Und mein Vater heißt Gunnar. Dann habe ich noch einen großen Bruder und eine große Schwester und beide arbeiten in einer Bank. Sie heißen Niels-Peter und Grethe. Möchtest du sonst noch etwas wissen?«
»Im Moment nicht. Darf ich deine Mutter mit Vornamen anreden?«
»Ja, sicher. Oder willst du sie etwa Frau Søndergaard nennen?«
Anders zeigte ihr den ganzen Hof. Und Åses Gemüsegarten, wo die Porreespitzen aus der Erde lugten und wo es ein ganzes Beet mit Kräutern gab. Sie füllten sich die Taschen mit roten, saftigen Pflaumen aus dem großen Garten, wo auch Äpfel und Birnen bald reif sein würden. Im Hühnerstall fanden sie ein Ei, das Anders in einen Korb legte. Und draußen auf einem der Felder begegnete ihnen Gunnar, der mit der Pfeife im Mund auf seinem Traktor saß. Er hatte einen krummen Rücken und ein wettergegerbtes Gesicht, aber Louise konnte die hohen Wangenknochen und die ruhigen blauen Augen erkennen, die sie bei Anders schon so sehr liebte.
Der Hund Boss, ein Golden Retriever, der völlig außer sich vor Freude war, dass Anders zu Hause war, wuselte bellend um ihre Beine herum, während sie einen Hügel hinaufgingen.
»Jetzt zeig ich dir die schönste Aussicht auf der Welt«, sagte Anders und zerrte Louise die letzten Meter zum Gipfel des Hügels hinauf.
Atemlos ließ sie sich auf eine kleine Bank fallen, die unter einem Baum stand, und betrachtete die flache Landschaft mit den grünen, braunen und gelben Feldern. Von hier aus konnte man Höfe, Windmühlen und windschiefe Bäume zählen. Weit in der Ferne lag das Meer wie ein tiefblauer Streifen zwischen Himmel und Erde.
»Hierher gehe ich, wenn ich nachdenken will. Oder träumen«, sagte Anders und setzte sich neben sie.
»Träumst du viel?«, fragte Louise vorsichtig, um ihn nicht zu stören und zum Verstummen zu bringen.
»Das tun wohl alle«, antwortete er ausweichend. »Aber wenn man jung ist, träumt man wohl am meisten. Wir haben ja ein ganzes Leben, von dem wir träumen können.«
»Eine ganze Zukunft?« Louises Hand stahl sich in seine. Er sah sie nicht an, sondern zupfte nachdenklich an einem Grashalm.
»Ja. Ich hab bloß die Zukunft so satt. Die ganze Zeit wird uns eingebläut, dass wir vernünftig sein und an die Zukunft denken sollen. Alle wollen uns erzählen, wie wir zu einer Ausbildung kommen, mit der wir später etwas ›anfangen‹ können. Aber niemand erzählt uns, dass wir im Himalaja klettern sollen, weil das spannend ist, oder dass wir Maultrommelspielen lernen sollen, weil das Spaß macht. Entschuldigung, ich fasele hier so rum. Aber das kommt davon, dass ich immer mit mir oder mit Boss über so was rede, wenn ich hier oben sitze.« Verlegen versetzte Anders ein paar Kieselsteinen einen Tritt.
»Macht doch nichts«, antwortete Louise. »Und du faselst überhaupt nicht.«
Sie hätte nie gedacht, dass er so viel reden würde, und sie fühlte sich unglaublich geschmeichelt von seiner Vertraulichkeit.
»Was ist mit dem Hof? Willst du den übernehmen?«, fragte sie.
»Frag meinen Vater. Wir reden nicht mehr darüber«, antwortete Anders trocken. »Wir haben uns deshalb so oft gefetzt, dass es keinen Sinn mehr hat. Weder meine Schwester noch mein Bruder wollen Bauern sein und da bleibe nur noch ich, um den Erbhof weiterzuführen. Und er kann nicht verstehen, dass ich das nicht will.«
»Ich dachte, du wärst gern Bauer?«
»Bin ich auch. Aber es gibt doch noch andere Beschäftigungsmöglichkeiten, außer dass man immer weiter in derselben Pflugfurche herumlatscht. Ich möchte gern reisen und etwas erleben, Bücher lesen und klüger werden. Die Welt wird einfach so klein, wenn man meint, der Horizont läge draußen am Markstein.«
Louise sah ihn hingerissen an. Er war klug. Neben ihm kam sie sich vor wie eine Idiotin. Er hatte viel mehr nachgedacht als sie selber. Auch wenn sie für den Schülerrat haufenweise Resolutionen verfasst hatte.
»Schreibst du Gedichte?«, fragte Louise, einer plötzlichen Eingebung folgend.
»Warum fragst du? Hast du nachgeguckt?« Anders biss sich auf die Lippen und errötete leicht.
»Weil du ein Träumer bist.« Louise küsste ihn sanft auf die Wange und Boss kam auf sie zugestürzt, nachdem er auf dem Hügel auf Entdeckungsreise gegangen war.
»Komm, wir müssen machen, dass wir nach Hause kommen. Meine Mutter hat das Essen bestimmt schon fertig, wir essen ja immer um Punkt zwölf«, sagte er und sprang auf.
Sie wäre gern noch mit ihm hier sitzen geblieben, aber sie nickte und sah ein, dass der Rest warten musste.
Sie hatten Gegenwind, als sie zum Hof zurückliefen. Anders’ sonnengebleichte Haare sträubten sich und Louise fühlte sich leicht wie ein weißer Schmetterling.
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