Steinar Sörlle
Ronnys Flucht
Aus dem Norwegischen
von Lothar Schneider
Saga
1
Ronny radelt. Schwebt dahin. Fort! Fort! An nichts anderes will er denken. Manchmal sieht er trotzdem diesen Stein, der fliegt und fliegt und mit einem Knall ein Fenster trifft. Dann das Splittern von Glas.
Offenbar ist damals noch mehr zersprungen. In Ronny.
Ein windschiefer Baum auf einer Kuppe. Beugt sich über ihn. Deutet in die Richtung, in die er will, mit langen, knorrigen Fingern. Ein Bauernhof taucht in der Landschaft auf. Die Fenster sind schwarz wie Fischteiche. Unvermittelt scheint die Morgensonne in eine Fensterscheibe und wirft ein Scheinwerferlicht direkt in seine Augen. Für einen Augenblick sind es zwei Sonnen. Und beide betrachten ihn prüfend. Erinnern ihn daran, daß er flieht.
Ronny dreht sich ständig um, will Bescheid wissen. Nicht gerade, ob jemand ihm folgt. Noch nicht. Aber ganz sicher kann man nie sein.
Es ist Ende Februar. Der Asphalt ist nach dem milden Winter voller Schlaglöcher. Als er durch eine Pfütze fährt, gerät er ins Schleudern, und erst im letzten Augenblick fängt er das Fahrrad ab.
«Bist du völlig verrückt, Junge», sagt er zu sich selbst. «Da saust du dahin auf zwei dünnen Reifen voller Luft, um dich auch nur Luft, und schaust in die verkehrte Richtung.» Im selben Moment hört Ronny, wie zischend der Reifendruck nachläßt. Ehe er bremsen kann, ist das Vorderrad auf der Felge. Das Rad bricht aus, von einer Seite zur anderen. Stößt gegen die harte Schneemauer. Wirft ihn ab. Er hört das Krachen, als er am Boden aufschlägt. Dann kommt der Schmerz. Im Gesicht und an der Hüfte.
Ronny geht zittrig. Er schiebt das Fahrrad. Der Schlauch hat einen großen Riß. Nicht mehr zu flicken, nein. Verdammt noch mal. Ist das eine Art abzuhauen? Warum mußte das Schlagloch ausgerechnet da sein? Es hatte ihn erwartet, voll mit Wasser. Hatte nur gezwinkert, wie ein böses Auge. Komm nur her. Und er ist in die Falle gegangen.
Ronny hinkt zu einem Tümpel. Es ist totenstill. Die Bäume beugen sich über die Wasserfläche. Spiegeln sich. Es ist fast nicht festzustellen, was ist nun wirklich? Aus alter Gewohnheit von den Angelausflügen mit dem Vater steckt er rasch die Angelrute zwischen einige Steine. Wirft den Blinker. Das ist etwas Vertrautes. Ronny blickt ins Wasser. Ein schmales Gesicht mit langem, dunklem Haar starrt zurück. Er hat eine Schürfwunde auf der Backe. Ein Windstoß kommt. Die glatte Oberfläche kräuselt sich. Er bleibt stehen und sieht nur Vaters Gesicht. Wie es war, als er noch lebte. Die Hand im struppigen Haar. Die Stimme mit dem Lächeln darin. «Was hast du denn jetzt vor, mein Junge?» Das Bild und die Stimme sind für einen Moment so deutlich, daß Ronny beinahe antwortet. Er dreht sich brüsk um. Will die Erinnerung an den Vater wegschieben. Auch das Bild von dem Grab. Besonders den Erdhügel. Er will ihn nicht sehen. Nicht jetzt. Mit einem Kloß im Hals schöpft er mit einer Hand Wasser und wischt sich rasch über die Backe.
Kann etwas völlig verschwinden? Ihre Angelausflüge. Vaters warme Hand. Der Ausdruck in den Augen, wenn er vor der Leinwand stand und malte.
Ronny schluckt den Kloß hinunter.
«Man findet ihn jetzt in seinen Bildern», hatte Nick gesagt.
Blöder Nick, denkt Ronny.
«Mitbewohner», schnaubt er. Warum mußte er in Mamas Schlafzimmer liegen und schnarchen wie ein Ochse? Mit einer Drehzahl bis zum Anschlag. Was hatte er in Mamas Trauer zu suchen? Solange sie die Trauer nur mit Sara, seiner Schwester, und mit ihm geteilt hatte, war der Schmerz erträglich gewesen. Aber nachdem Nick gekommen war? Nix. Nix Nick. Und maßte sich noch an, er würde Papas Bilder verstehen.
In dem Moment ruckt es an der Schnur. Ronny greift nach der Angelrute. Zieht behutsam. Dann stärker und stärker. Auf einmal wird ein Hecht sichtbar, durchschneidet die Wasserfläche. Hängt blitzend am Haken und zappelt. Einige heftige Schläge mit dem Körper, und er ist los. Fliegt in einem Bogen durch die Luft und verschwindet mit einem Platschen.
«Ja, ja», sagt Ronny laut. «Du bist wieder frei. Und mich sollen sie auch nicht an den Haken kriegen.»
Das hier war ein Zeichen.
«Ich werde es schon schaffen, nach Kopenhagen zu kommen, zum Freistaat.»
Ronny tastet seinen Rucksack ab. Es tropft heraus. Er sammelt die Stücke der zerbrochenen Colaflaschen. Seine Sachen sind naß. Die geschmierten Brote durchweicht. Sowohl auf dem Sack wie am Rücken seiner Jacke ist ein großer, nasser Fleck.
Ronny schiebt das Fahrrad in den Wald. Dort legt er es in eine kleine Vertiefung und zieht herumliegende Zweige darüber. Will keine Spur hinterlassen.
Das Zelt liegt obenauf im Rucksack. Die Angelrute ragt senkrecht nach oben. Ronny tastet nach dem Postsparbuch in der Gesäßtasche. Er hat an alles gedacht, sogar an die Brote, die jetzt durchweicht sind, und die Grillwürste. Der Schlafsack drückt am Rücken. Nein, niemand wird ihm ansehen, daß er auf der Flucht ist, denkt er.
Er macht einen Ausflug, oder etwa nicht! Das hat er auf den Zettel geschrieben, der auf dem Küchentisch liegt. Um sich einen kleinen Vorsprung zu sichern. Obwohl sie ihn vorerst wahrscheinlich gar nicht vermissen werden. Sara wird am schnellsten nach ihm fragen. Würde sich wundern, wo er ist. Schulfrei, hat er geschrieben. Lehrerkonferenz.
Während er leicht hinkend seinen Weg zu der wenig befahrenen Ausfallstraße fortsetzt, zieht er seine langen, schwarzen Haare nach vorne. Will die Schürfwunde verdecken. Jedesmal wenn ein Auto kommt, wendet er das Gesicht ab.
Ein Windstoß fegt durch die Buchen vor ihm und rüttelt sie. Er sieht, wie sie schwanken. Die letzten Blätter abwerfen. Hoch in die Luft wirbeln sie. Verwandeln sich unversehens in einen Vogelschwarm. Ja, so sieht es aus, denkt er und verfolgt die schwarzen Punkte mit den Augen.
Das hätte Papa gemalt, denkt er auf einmal.
«Du bist ein Träumer, genau wie dein Vater», sagte die Mutter immer. Einen Augenblick ist ihm, als würde sie nach ihm rufen. «Ronny, komm zurück.» Und noch mehr. Ihre Stimme bleibt in der Luft hängen. Sich umdrehen würde wie eine Antwort sein, das weiß er. Er tut es nicht. Noch nicht.
Ronny hinkt weiter, doch der Gedanke an die Mutter steckt in ihm. Bringt ihm das Haus daheim in den Sinn. Aber auch die Aussicht über das Städtchen hinunter zum Meer, zum Hafen mit der Fähre nach Dänemark. Wie verlockend das gewesen ist. Das Fjordmaul öffnet sich, man fährt hinaus aufs Meer und ist weg. Aber nicht mit diesem Schiff. Er würde Bekannte treffen. Er müßte sie grüßen und sie anlügen. Das hieße, eine Spur hinterlassen. Die reinste Pfadfinderspur. Fähren nach Dänemark fuhren auch von anderen Orten ab. Den Nachbarstädten und Oslo. Den Zug vom Bahnhof unten am Hafen konnte er auch nicht nehmen. Aus demselben Grund. Daß ihn Leute wiedererkennen würden.
2
Die letzten Kilometer geht Ronny schwerer. Die Nachbarstadt kommt näher. Zuerst vereinzelte Häusergruppen, dann rücken die Gebäude enger zusammen. Lehnen sich aneinander. Um ihn. Jetzt überfällt ihn dasselbe Gefühl, das er in letzter Zeit in seinem Städtchen daheim hatte. Das Gefühl, eingesperrt zu sein. Es schnürt ihm den Hals zu, als er durch die Straßen geht. Doch die Nachbarstadt ist größer als seine eigene. Die Leute hasten an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. Das macht ihn langsam sicherer. Trotzdem setzt er die Sonnenbrille auf. Es ist, als wären damit auch die Geräusche weiter entfernt.
Hinauf zur Eisenbahnstation führt eine lange, herrliche Gutshofallee. An ihrem Ende steht nur ein kleines, sparsam gelb gestrichenes Holzgebäude. Der Bahnhof.
Aber mit jedem seiner Schritte wächst es. Als er schließlich da ist, hat es sich in ein großes Gebäude verwandelt. Sogar die Tür wirkt größer als normal.
Das ist, weil du Angst hast, hört er seine innere Stimme. So redete auch der Vater mit ihm, wenn er seine Bilder erklärte.
Ronny stemmt die schwere Tür mit der Schulter auf. Vor dem Schalter fühlt er sich immer noch klein. Der uniformierte