Steinar Sörlle

Ronnys Flucht


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ihm das Sparbuch und einen Hunderter hin. «Irgendwann funktioniert es immer, weißt du», sagt sie, legt den Kopf schräg und versucht ihn aufmunternd anzulächeln.

      Draußen auf der Straße brauste es in Ronnys Kopf. Warum zum Teufel hatte er nicht mehr abgehoben? Wie konnte er nur so dumm sein? Warum hatte er nicht eine Null angehängt? Wie er es vorgehabt hatte? Er betrachtete den Hunderter. Der reichte gerade fürs Essen. Und das Geld für die Fähre von Oslo aus? In die Post würde er sich kaum noch einmal hineinwagen. Zuerst mußte er jedenfalls die Zeitungen lesen. Nachsehen, ob tatsächlich bereits eine Vermißtenanzeige vorlag. Eigentlich glaubte er nicht daran. Sie hatten auch früher nie Krach geschlagen, wenn er ein paar Tage weg war. Ronny ging die Straße hinunter und schräg hinüber zum Kiosk. Zögernd trat er heran, schnappte sich das Lokalblatt und das Dagbladet, steckte beide ein und bezahlte.

      Nach ein paar Schritten blieb Ronny stehen. Zog langsam die Zeitungen aus der Tasche und blätterte darin, während er den Bürgersteig entlangging.

      «Na, haste jetzt Kohle?» Ronny schaute direkt in ein Paar braunschwarze Augen. Er zuckte zusammen. Sahen sie ihn nicht drohend an?

      «Erschrocken, was?» grinste der Kerl aus dem Park. «Ein paar Kröten kannste doch rausrücken, wennste mit Hundertern wedelst? Los, sei kein Frosch, dann verpfeif ich dich nich.»

      Ronny wollte weglaufen, war aber nicht dazu imstande. Er spürte, wie ihn eine schleichende Lähmung befiel. Als sei er bereits so gut wie gefangen. Er kramte in der Hosentasche nach einigen Zehnermünzen und gab sie schnell dem Kerl.

      «Mehr haste nich?» Der Kerl sah ihn vorwurfsvoll an. «Na ja, dank dir, Kumpel.» Er schlang unversehens seine Arme um Ronny, als würde er ihn umarmen.

      «Nein!» schrie Ronny. Plötzlich kam wieder Leben in ihn. «Hör auf, mich zu verfolgen! Verstehst du! Schluß damit!» rief er und marschierte schnurstracks die Straße hinunter.

      Ronny ging in einen Supermarkt. Kaufte Brot und Milch und eine Dose Labskaus. Draußen blieb er stehen, war ratlos. Die Frau an der Kasse hatte ihm sechzig Kronen herausgegeben. Das war alles, was er besaß. Wieder dachte er an die Post. Aber es war, als würden seine Schuhe festkleben, wenn er versuchte, diese Richtung einzuschlagen. Nimm dich zusammen, sagte er zu sich und tastete nach dem Sparbuch in der Gesäßtasche. Fast wie eine Gewohnheit. Aber die Hand griff ins Leere. Da stimmte etwas nicht. Er suchte fieberhaft in allen Taschen. Nein, es war und blieb verschwunden.

      Da fiel es ihm ein. Die Umarmung! Die dankbare Umarmung des geschwätzigen Schnorrers. Konto sperren, fiel ihm sofort ein. Ha, dann kam er selbst auch nicht mehr weiter.

      «Du mußt ihn finden, Ronny», sagte er zu sich selbst. Aber er war erst mal zu schlaff, irgend etwas zu unternehmen. Er suchte sich unten am Hafen eine Bank und setzte sich. Blätterte in der Zeitung, unfähig, ein Wort zu lesen. Saß da und hörte die Möwen schreien, immer hysterischer.

      Er war kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten. Da entdeckte er es. Etwas Bekanntes. Er mußte sich die Augen reiben, um klar zu sehen. Das Bild. Das war er selbst. «Junge aus dem Elternhaus verschwunden», stand darunter. Ronny schloß die Augen. War das schon das Ende? War sein Ausrücken vorbei? Er sank erschöpft auf die Bank und heulte.

      «He, hör auf zu flennen», flüsterte es hinter ihm. «Da haste dein Buch. Wollte mir bloß ’n paar Scheinchen holen, jetzt sin se hinter mir her. Das Scheusal am Schalter hat die Bullen gerufen.»

      «Du kannst es behalten, du Blödmann.» Ronny sprang auf. «Du Blödmann! Du Blödmann!» In seiner Verzweiflung ließ er seine ganze Wut an dem Dieb aus.

      «Ich brauche es nicht mehr. Hörst du. Ich brauche es nicht mehr», schrie er.

      «Wie meinste das?» zwinkerte der Dieb. «Ich wills nich, hab ich gesagt. Mach mal halblang, du bist ja völlig durchgedreht.»

      «Verdammter Idiot!» schrie Ronny. Tränen liefen ihm aus den Augen. «Da, schau her.» Er hielt die Zeitung hoch.

      «Ach du Scheiße», seufzte der Dieb. «Jetzt hocken wa im selbn Boot.»

      4

      «Nimms mal nich so schwer», tröstete der Dieb, der erklärte, er heiße Fredrik, genannt Flekken. «Sag bloß nich, der Zug is weg. Ein Zug geht immer», zitierte er. «Ich weiß so was. Todsicher. Und zwar um acht. Müssen uns nur kurz vorher am Einkaufszentrum hinstellen.»

      «Am Einkaufszentrum? Geht da ein Zug?» wunderte sich Ronny.

      «Klar doch, reg dich ab. Flekken hat so was im Griff.»

      «Ist das ein Güterzug?» wollte Ronny wissen. «Lastzug», nickte Flekken.

      «Aber?»

      «Reg dich ab», unterbrach ihn Flekken. «Da is wer, bei dem hab ich was gut. Einmal mitfahrn zum Beispiel. Dich nimm ich mit. Da kannste sehn, ich bin kein schlechter Mensch. Paß bloß auf die Zeit auf. Sonst isser weg, unser Zug.»

      «Okay», sagte Ronny. «Dann können wir ja, während wir warten, Labskaus mit Brot essen.» Ronny war gar nicht so selbstsicher, wie er vorgab. Aber Fredrik, oder Flekken, wie er sich nannte, war jetzt die einzige Möglichkeit wegzukommen.

      «Dann mal los», sagte Flekken. «Ich kenn ’nen Platz, da könn’ wa warten.» Er setzte eine dunkle Brille auf, und sie marschierten hinunter zum Hafen.

      5

      Fünf Minuten vor acht standen sie vor dem großen Einkaufszentrum, direkt da, wo man zur Stadt abbiegt.

      Ronny und Flekken hatten die Wartezeit hinter einem Bretterstapel im Hafen verbracht. Dort hatten sie kalten Labskaus gegessen und gefroren. «Besser is das Leben nich», hatte Flekken geantwortet, als Ronny mit den Zähnen klapperte. Aber später zog Ronny seinen Schlafsack heraus und legte ihn über die Beine von beiden. Flekken rückte näher. Es schien, als lebte er auf und würde munter. Er legte Ronny eine Hand um die Schulter. Ronny wußte nicht, ob er das mochte, blieb aber sitzen.

      «’N echter Gewaltmarsch», keuchte Flekken, als sie beim Einkaufszentrum ankamen. «Muß wieder Wärme in mich kriegen. Schlau von mir, ’n paar Meter vor dir gehen, da sieht uns keiner zusammen», sagte er mit einem seltsamen Lächeln.

      Sie schlurften hinüber zu dem großen Parkplatz mit den Fahnenstangen. Stapften an dem langen Steingebäude entlang. An der Ecke hielt Flekken an und guckte vorsichtig. «Dacht ichs doch. Sie laden den Laster ab. Wenn er wegfährt von der Tür, sin wir drin.» «Drin?» fragte Ronny.

      «Achtung, er fährt. Los, hinter mir her. Renn!» Flekken winkte dem Fahrer zu. Aber sehr vorsichtig, kam es Ronny vor.

      Der Lastwagen gab Gas. Während er an ihnen vorbeirollte, hielt Flekken Ronny am Arm fest. «Wir müssn rein zum Warteraum», sagte er heiser und schnell. «Es gehn noch mehr Züge.» Der Lastwagen war noch nicht weg, da hatte Flekken eine Eisentür geöffnet und Ronny hinter sich her gezogen.

      Ronny und Flekken hockten in einem dunklen Verschlag. Nur durch einen schmalen Spalt unter der Tür fiel Licht herein. Erst nach einer Weile konnten sie einander erkennen.

      «Warmes Plätzchen zum Warten, was!» meinte Flekken. «Willst wohl wissn, wies weitergeht? Wo wa hinwolln, da kommen wa hin, glaub dem Flekken.»

      Genau das tat Ronny nicht. Er hatte schon lange ein ungutes Gefühl, worauf er sich da eingelassen hatte. Jetzt fühlte er sich unwohler als je zuvor. Er wetzte unruhig hin und her.

      «Warten wir wirklich auf einen neuen Lastzug?»

      «Scht! Red nich so laut. Hier mußte flüstern, du Trottel!» erwiderte Flekken. «Klärt sich alles.»

      Ronny war davon nicht so überzeugt. Er rätselte, wie es wohl zu der Vermißtenanzeige in der Zeitung gekommen war. Hatten die vielleicht in der Schule angerufen?

      Ronny sah Studienrat Sjønningsens besorgten Blick über den Brillenrand. «Du wirst wohl einmal ein Kunstmaler, wie dein Vater. Wenn du dasitzt, zeichnest du entweder oder du träumst. Eigentlich bist du die ganze