nur mit den Händen bei der Sache.
Ronny pfeift vor sich hin. Spürt, wie er wieder wächst. Oder schrumpft das Gebäude? Jedenfalls scheint alles um ihn wieder normal zu sein.
Der Intercity glitt fast lautlos durch die Landschaft. Die meisten Fahrgäste, die Ronny sah, waren in ihre Zeitungen vertieft, während sie dahinschwebten. Ronny hob den Kopf und schaute hinaus. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, als stünde der Zug und die Landschaft drehe und drehe sich. Schneller und schneller. Du bist wohl etwas schwindlig im Kopf, Ronny, sagte er zu sich selbst.
«Quatsch», antwortete er seinen eigenen Gedanken und lächelte. Ich werde sicher Maler und Zeichner wie mein Vater. Er hat auch immer so viel Merkwürdiges gesehen.
«Der junge Mann ist wohl unterwegs zu einem Ausflug?» Die Frau ihm gegenüber hatte die Zeitung zur Seite gelegt und ihn scharf ins Auge gefaßt.
«Komplette Wanderausrüstung. Willst du in die Berge?»
Ihre graublauen Augen hatten kleine Pupillen. Jetzt fotografierte sie ihn damit. Ronny wußte es. Sobald man ihn als vermißt melden würde, würde sie beim Blick in die Zeitung nicken und sofort die Polizei anrufen.
«Klar», antwortete er endlich. «Rondane. Treffe mich mit Freunden.»
Altes Scheusal, dachte er. Laß mich in Ruhe. Warum hockst du da und klebst dir das Bild von mir in dein Gedächtnis? Das mag ich nicht. Da will ich nicht sein. Schau woanders hin.
«Wo triffst du dich denn mit ihnen?» Die Frau beugte sich vertraulich vor.
«Geht Sie einen feuchten Dreck an», entfuhr es Ronny.
Die Frau lehnte sich auf der Stelle zurück, verzog den Mund, ihr Blick wurde leer, und sie starrte aus dem Fenster.
Blödmann! Idiot! sagte Ronny zu sich selbst. Nach dieser frechen Bemerkung konnte er sicher sein, daß sie sich an ihn erinnern würde.
Der Lautsprecher krächzte: «Wir machen die neu zugestiegenen Reisenden auf unseren Minibar-Service aufmerksam. In Waggon drei steht ein Telefon zu Ihrer Verfügung. Wir wiederholen ...»
Ronny schaute für einen Moment in die argwöhnischen Augen der Frau und zuckte zusammen. Hatte sie nicht ihn angesehen und gleich darauf dem Schaffner einen vielsagenden Blick zugeworfen, als der gerade kontrollierte?
Er spürte, wie heiß sein Gesicht war, bestimmt war es auch rot. Als der Zug das nächste Mal hielt, erhob er sich. Folgte fast automatisch denen, die aussteigen wollten.
Auf dem Bahnsteig blieb er verwirrt stehen. Registrierte nur, daß die Waggons davonfuhren. Einer nach dem anderen wurden sie von einem dunklen Tunnel verschluckt.
3
Ronny erwacht in seinem kleinen Zelt. Mit Traumbildern, die hängengeblieben sind. Er sieht den Stein, sieht ihn erneut fliegen. Lautlos diesmal. Durch das Fenster. Sieht Nicks Gesicht dahinter. Nicks wütendes, graues Gesicht. Der Stein und die Topfpflanze liegen am Boden. Die lauten Stimmen. Ronny stützt sich auf die Ellbogen und streckt den Kopf hinaus. Eine rote Sonne scheint durch die tiefen Wolken. Die Farbe breitet sich auf dem See aus. Einige Spatzen pfeifen. Viel zu laut und hoch, findet er. Wie das Quietschen eines Schubkarrenrades.
Er packt seine Sachen. Sieht vor sich den Zug, der im Tunnel verschwindet. Ronny hatte sich eine Weile am Bahnhof aufgehalten. Er wollte ja weiter. Aber als die Waggons am Bahnsteig einfuhren, meinte er, in jedem der Fenster bekannte Gesichter zu erkennen. Menschen standen vom Sitz auf und winkten ihm zu. So erging es ihm mehrere Male.
Danach hatte er hier sein kleines Zelt aufgeschlagen, direkt am Rande der Stadt. Doch nun wollte er weg, wollte weiter. Zu lange hatte er sich hier aufgehalten. War ziellos im Zentrum herumgestreunt. Hatte Geld abgehoben und etwas eingekauft. Es war wie im Traum. Oder wurde er langsam wahnsinnig? Denn er hatte den Vater um eine Straßenecke biegen sehen. Als die Gestalt deutlicher wurde, war er es doch nicht. Das nächste Mal kam der Vater aus einem Photogeschäft und wurde noch schneller zu einer anderen, fremden Person. Beim dritten Mal redete Ronny mit ihm, bevor er zu nahe kam. Ich sehe dich schon, sagte er zu sich. Obwohl er wußte, daß es nur Einbildung war. Später aß er an einem Ort zu Mittag, den er meinte, einmal mit ihm zusammen besucht zu haben. Er zeichnete den Vater auf die Serviette. Er bekam so feine Falten. Wie Zweige an einem Baum. Man konnte sie gut aufs Papier bekommen. Merkwürdig war nur, daß der Vater so ärgerlich aussah. Er schien zu sagen: «Was ist das für ein Quatsch. Flucht? Mach, daß du nach Hause kommst, du Narr. Nick ist gar nicht so schlimm!»
Ronny bricht das Zelt ab, packt alles ein. Geht an der steil aufragenden Bergwand entlang zur Stadt. Sie scheint über die nächsten Häuser zu hängen. Konnte jeden Augenblick kippen. Aber alle Menschen gehen friedlich herum. Als seien sie gedopt, denkt er. Ronny steuert wieder auf die Post zu. Er wollte schließlich nach Kopenhagen und in den Freistaat! Bisher hatte er jedesmal hundert Kronen geholt. Hat Angst, mehr Geld bei sich zu tragen.
Schon vorher ist er mehrmals an einer Gruppe im Park vorbeigelaufen. Jetzt stehen sie wieder da, sehen nicht sehr vertrauenserweckend aus. Sie rauchen. Ist es Hasch? Bierflaschen machen die Runde.
«Bist ’n du für ’n Typ? Suchste was?»
Ein Kerl, der am Rande der Gruppe gestanden hat, nähert sich. Ronny erkennt ihn wieder. Hat versucht, Geld zu schnorren, als er voriges Mal vorbeiging.
«Isses unser Krösos? Heut haste aber ’n paar Kröten? Nur für mich, ha? Hab ’nen verdammten Hunger.»
Der Kerl ist schon erwachsen, aber nicht alt. Trägt Lederjacke und Jeans. Hat langes Haar und ein blasses Gesicht mit Bartstoppeln. Jetzt tastet er mit dunklem Blick Ronny ab.
«Hör zu, Kleiner. Ich seh, daß du abgehaun bist. So verrückte Burschen riech ich auf Meilen. Hast Angst, merk ich an deinen Augen. Spielst Tourist, was? Ham se dich rausgeschmissen? Aus der Penne und alles?» Er beugt sich vor. «So hat’s bei mir auch angefangen. Schon viel gutes Essen auf der Hose, was?» Ronny guckt an sich herunter. Sieht nur zu deutlich die Flecken. «Feinen Scheitel haste.» Der Kerl lacht. «’N paar Groschen für ’n Pils wirste doch haben?» Da rennt Ronny davon. «Komm morgen wieder!» ruft ihm der Kerl nach.
Ronny betritt unsicher die Post. Bisher ist alles gut gegangen. Ob sie inzwischen eine Vermißtenanzeige aufgegeben haben? Er füllt den Schein aus. Die Schrift wird groß und krakelig. Ähnelt eher den Buchstaben eines ABC-Schützen oder dünnen, knorrigen Zweigen. Das kommt vom Zittern, sagt er zu sich. Er zerreißt den Schein in kleine Fetzen und füllt umständlich einen neuen aus, diesmal in Blockbuchstaben.
Heute sieht ihn die Frau hinter der Scheibe an. Verdammt, warum bin ich bloß an den gleichen Schalter gegangen, schießt es Ronny durch den Kopf. Das war wegen der blöden Nummer, die er ziehen mußte. Schalter zwei. Bingo! Dieselbe Frau dreimal hintereinander. Sie schreibt langsam auf einen Zettel, dann schiebt sie seine Karte in den Computer. Da drinnen summt es. «Nein, er will sie nicht», sagt sie und lächelt, aber nur mit dem Mund, stellt Ronny fest. Ihre Augen mustern ihn. Scheinen größer zu werden. Ronny sieht nur große, blaue Augen.
«Nein», sagt sie wieder. «Tut mir leid. Da ist ein Fehler in der Anlage. Kari!» sie ruft hinüber zum nächsten Schalter. «Bist du on line? Ja?»
Sie steht auf und geht nach nebenan. Dort stecken sie die Köpfe zusammen.
Sie werfen einen raschen Blick auf Ronny. Dann bücken sie sich nach etwas weiter hinten auf dem Tisch und reden weiter.
Liegt da nicht eine Zeitung? Ronny reckt sich. Natürlich! Sie deuten darauf!
Hau ab, Ronny, hau ab! dröhnt es in seinem Kopf.
Die Frau kommt wieder an seinen Schalter. Ronny steht da. Noch gibt es die Glasscheibe zwischen ihm und denen da drinnen. Sehen sie so aus, als hätten sie etwas vor? Nein.
Jetzt lächelt sie ihn freundlicher an. «Ich bin neu hier, verstehst du.» Ihr Blick ist wachsam, prüfend. «Wenn du das nächste Mal kommst ...»
Ronny zuckt erneut zusammen.
Aber da summt es im Computer.