Maj Bylock

Die Hexenprobe


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      Maj Bylock

      Die Hexenprobe

      Aus dem Schwedischen

      von Birgitta Kicherer

      Saga

      1

      „Lauf!“ rief Anneli und trieb ihre kleine Schwester auf dem Pfad vor sich her. „Lauf, beeil dich!“

      Sie war dem Weinen nahe. Die Zeit drängte. Aber es hatte geschneit, und der Pfad, der zum Stall hinunterführte, war steil und glatt. Die Füße der Kleinen schlitterten hin und her, und Anneli konnte ihr nicht helfen. Sie mußte ja den großen Wassereimer schleppen.

      „Die Puppe!“ jammerte die Fünfjährige und versuchte zurückzulaufen, um ihre Puppe, die sie im Schnee verloren hatte, zu suchen.

      „Die kriegst du nachher“, versprach Anneli. „Ich such sie dir.“

      Gerade jetzt hätte sie einfach alles versprochen. Wenn nur ...

      Endlich war sie mit der Kleinen im Stall. Sie breitete eine Armvoll Heu für sie aus.

      „Leg dich hin und schlaf ein bißchen“, bat sie. „Oder sing den Zicklein was vor. Hauptsache, du bleibst im Heu, dann frierst du nicht. Ich komm gleich zurück.“

      Rasch zog sie ein Stück Brot aus der Schürzentasche und steckte es der Kleinen zu.

      „Hier hast du was!“

      Die Kleine vergaß ganz zu jammern, weil sie so hungrig war. Sie hätte schon längst ihre Abendgrütze bekommen und läge auch schon im Bett, wenn nicht ...

      Die Ziegen meckerten, und die Kitzlein hüpften im Verschlag umher. Die Kuh zerrte an ihrem Strick und blickte vorwurfsvoll hinter Anneli her. Sie hatte geglaubt, das Heu sei für sie.

      Anneli schob die Stalltür von außen zu. Dann nahm sie den leeren Eimer und setzte ihren Weg fort, runter zur Quelle.

      Mutter hatte sie gebeten, viel Wasser zu holen. Der Kessel, der oben im Haus bereits überm Feuer hing, genügte nicht.

      Annelis Herz hämmerte wild. Sie hatte solche Angst. Wie sollte sie das alles nur schaffen? Das neue Kind hätte noch lange nicht kommen sollen. Und jetzt kam es doch ...

      Wenn Vater nur daheim gewesen wäre! Aber Vater war heute schon in aller Frühe auf Fuchsjagd ausgezogen. Beim Nachbarn Hilfe zu holen, daran war gar nicht zu denken. Der Weg war viel zu weit und führte durch den finsteren Wald. Anneli käme nie rechtzeitig dorthin.

      Hier unten lag die Quelle. Aber Anneli konnte nicht bis ganz vor rennen, sondern mußte das allerletzte Stück kriechend zurücklegen. Es war gefährlich, Wasser zu holen, wenn es so eisig und glatt war. Dies war keine gewöhnliche Quelle, sondern ein kleiner Waldtümpel, die Bodenlose Lache genannt. Wer in die Bodenlose Lache fiel, war für ewig verschwunden.

      Endlich erreichte sie den Rand des Wassers.

      Zum Glück brauchte Anneli kein Loch ins Eis zu hacken. Die Bodenlose Lache war immer offen, selbst wenn alle anderen Tümpel und Teiche zufroren. Bisher hatte noch niemand die Bodenlose Lache zugefroren erblickt.

      Die Wasseroberfläche breitete sich blank und still vor ihr aus und spiegelte die roten Kiefernstämme und die Schneewehen am Ufer. Anneli beugte sich so weit wie möglich vor und sah ihr eigenes Bild. Ein blasses, ängstliches Gesicht. Ein hellbrauner Zopf, der über die eine Schulter nach vorne hing.

      Aber was war das?

      Sie war ja nicht allein! Dicht hinter ihrem eigenen erblickte sie ein anderes Gesicht im Wasserspiegel. Eine alte Frau mit weißen, strähnigen Haaren. Und die Augen ... Sie brannten, als wären sie aus Feuer!

      Eine alte Frau? Vielleicht könnte sie Anneli bei Mutter helfen?

      Anneli drehte sich rasch um. Doch der Pfad lag leer vor ihr. Wohin war die Alte verschwunden? Vielleicht war sie schon vorausgeeilt, hinauf zum Haus?

      Anneli ließ den Eimer ins Wasser sinken, und der Wasserspiegel zerbrach.

      Mutter würde viel Wasser brauchen!

      Anneli füllte den Eimer bis an den Rand. Aber so wurde er zu schwer! Sie vermochte ihn kaum hochzuheben, und das Wasser schwappte über. Rock und Schürze wurden feucht, die Strümpfe völlig durchnäßt. Bei jedem Schritt platschte es in Annelis Schuhen aus Birkenrinde.

      Sie mußte immer wieder stehenbleiben und ausruhen. Unruhig sah sie sich um. Wenn die Alte zu Mutter vorausgegangen wäre, müßten Spuren im Schnee zu sehen sein. Aber außer Annelis eigenen Spuren war nichts zu sehen. Und die führten zur Quelle hinunter, nicht hinauf zum Haus.

      Keuchend kämpfte sie sich mit dem schweren Eimer den steilen Hang hinauf. Plötzlich stolperte sie über etwas, das aus dem Schnee herausragte.

      Die Puppe!

      Anneli hatte sie selbst aus einem Holzscheit für ihre kleine Schwester angefertigt. Die Haare der Puppe waren aus Moos, und die Arme trockene Zweige, die abstanden. Um den Bauch hin ein Rock aus einem blaukarierten Stoffrest.

      Sie setzte die Puppe auf die Schneewehe.

      Da ertönte ein Schrei!

      Der Schrei schnitt Anneli direkt ins Herz, sie erstarrte und wurde so steif wie die Puppe.

      Dann noch ein Schrei! Doch diesmal schwach, eher wie das Piepsen eines jungen Kätzchens.

      Das Kind war geboren!

      Anneli stürzte ins Haus. Hoffentlich war die Alte dort, um Mutter zu helfen. Aber nein! Außer Mutter und dem Kind war niemand da.

      Jetzt mußte alles schnell gehen. Anneli kam nicht mehr dazu, etwas zu fragen, ja, kaum dazu, etwas zu denken.

      Sie führte alles aus, was Mutter sie tun hieß. Zuerst suchte sie Leinen hervor, in das das Kind gewickelt werden konnte. Dann vermischte sie das heiße Wasser mit dem kalten Wasser aus dem Eimer. Es durfte nicht zu heiß sein, wenn sie den Kleinen abwusch.

      Leicht war es nicht. Er zappelte, und der winzige Körper drohte ihr immer wieder aus den Händen zu gleiten. Es war ein Wunder, daß sie ihn nicht fallen ließ.

      Er war so zart und klein, mußte behutsam behandelt werden und durfte ja nicht zu fest angefaßt werden!

      Und die ganze Zeit schrie er, als gefalle ihm diese kalte Welt ganz und gar nicht. Er verstummte erst, nachdem sie ihn abgetrocknet und neben Mutter in die Wärme gesteckt hatte.

      Endlich konnte Anneli ihre Schwester aus dem Stall holen. Das kleine Mädchen vergaß seine Puppe, als es sein Brüderchen zu sehen bekam. Voller Neugier strich die Kleine über die winzigen Zehen und Finger.

      Heute abend war es beinahe unmöglich, die kleine Schwester ins Bett zu bringen. Wie ein junger Dachs krabbelte sie unter der Schaffelldecke umher, als Anneli sie zudecken wollte.

      Endlich wurde es still in der Stube.

      Auf dem Herd war das Feuer zu einem Gluthaufen zusammengesunken, und die Kälte begann sofort, durch die Ritzen an der Tür und in den Wänden zu dringen. Anneli erschauerte und legte noch mehr Holz auf.

      Doch nicht die Kälte war heute nacht die größte Gefahr. Mutter hatte erzählt, daß das Feuer nie ausgehen dürfe, solange ein ungetauftes Kind im Haus sei. Wenn es im Haus dunkel würde, könnten die Trolle angeschlichen kommen und das Kind an sich reißen. An seiner Stelle würden sie ein Trollkind in die Wiege legen. Anfangs könne man keinen Unterschied feststellen. Aber schon bald würden dem Kind Schwanz und Krallen wachsen, und der Körper würde grau und behaart werden.

      Anneli schlich zu dem Bett hinüber, wo Mutter mit dem Jungen auf dem Arm eingeschlafen war. Lange blieb sie dort stehen, streichelte die weichen Haare des Kindes und spürte den warmen Atem, der aus dem Näschen kam. Nie würde sie es zulassen, daß die Trolle ihn vertauschten! Er konnte tatsächlich schon ihren Finger festhalten!

      Bald flammte das Feuer auf, und es wurde wieder hell und warm in der Stube. Anneli fröstelte nicht mehr. Ihre Augenlider wurden schwer. Aber sie