wo er die Kinder dabeihatte. Das Bergvolk lockte mit Vorliebe die Kinder der Menschen zu sich, um Hütejungen und Hirtenmädchen für ihre Kühe zu bekommen. Die Kinder, die in den Berg gelockt worden waren, kehrten fast nie wieder in die Freiheit zurück!
„Hier können wir nicht bleiben“, flüsterte Vater.
Aber er hatte keine andere Wahl. Draußen toste der Sturm. Vater tastete in seinen Taschen nach dem Feuerzeug. Er mußte ein Feuer anmachen, das war das einzige, was er tun konnte, um sich und die Kinder zu schützen. Nein, es gab noch ein weiteres Mittel! Er zog sein Messer aus der Scheide und schob es unter Tapios Felldecke auf dem Schlitten. Gegen finstere Mächte schützten sowohl Stahl als auch Feuer.
Und Gottes Wort, natürlich. Ein Glück, daß dies nicht auf dem Weg zur Kirche passiert war! Da war der Junge ja noch nicht getauft gewesen!
Ohne Handschuhe begannen Vaters Finger, vor Kälte zu erstarren. Seine Bewegungen wurden fummlig, und es dauerte lange, bis die Zweige, die er von einem Busch abgebrochen hatte, Feuer fingen. Die Zweige waren naß vom schmelzenden Schnee, und die Funken, die aufstoben, als er den Feuerstahl gegen einen Stein schlug, wurden rasch vom Wind gelöscht, ehe sie etwas anzünden konnten. Endlich flackerte dennoch ein Flämmchen aus dem Reisighaufen empor. Da wachte Tapio auf und schrie, weil er naß und hunrig war.
„Anneli!“ flüsterte der Vater und schüttelte sie. „Tapio braucht etwas zu essen.“
Aber Anneli schlief tief und fest wie eine Tote. Zum ersten Mal mußte Vater selbst versuchen, den Kleinen zu füttern. Noch war Milch in der Rindenflasche, und den Bausch, durch den der Kleine die Milch aufsaugte, hatte Anneli daneben in die Kiepe gelegt.
Es gelang Vater, den Hunger des Kleinen zu stillen. Aber als er den Bausch mit der letzten Milch füllte, sah er plötzlich ein kleines krummes Männchen neben dem Feuer. Das Männchen war kleiner als Tapio, und seine Füße schwebten eine Handbreit über dem Boden. Es lächelte freundlich und streckte die Hand nach dem Jungen aus. Vater verbarg Tapio unterm Kittel und legte heimlich zwei gekreuzte Zweige neben Anneli. Seine Kinder durfte der Alte nicht holen! Da zeigte das Männchen auf die Kiepe und bat um ein Stück Brot. Vater wagte es ihm nicht abzuschlagen. Er nahm das letzte Stück Brot und reichte es dem Alten.
Plötzlich sah er, wie der Alte ihm einen goldgelben Käse reichte, der im Schein des Feuers verlockend glänzte.
„Leih mir dein Messer“, bat der Alte, „damit wir das Brot und den Käse teilen können.“
„Lieber werde ich hungern“, antwortete Vater und preßte den Messergriff in der Hand.
Jetzt wußte er gewiß, daß das Männchen zum Bergvolk gehörte. Messer oder Beile konnte das Bergvolk nämlich nicht selbst anfertigen. Daher versuchten sie bei jeder Begegnung mit den Menschen, diese Werkzeuge zu stehlen oder mit List an sich zu bringen.
Vater starrte das Männchen durchdringend an und sagte das Vaterunser auf.
Der Alte warf den Käse von sich und stieß ein Wolfsgeheul aus, bevor er in den Berg hineinglitt. Anneli wachte jäh auf.
„Ein Wolf!“
„Nein“, flüsterte Vater, „das war ...“
Da ertönte das Geheul erneut, doch diesmal aus dem Wald. Der Sturm hatte sich gelegt, draußen war es still. Das Feuer war erloschen. Der Himmel schimmerte grünlich hinter den weißen Baumwipfeln.
Vater zögerte. War es möglich, daß er eingeschlafen war? War das Männchen nur ein Traum gewesen? Der Wolf heulte zum dritten Mal.
Vater sah, wie etwas zwischen den Bäumen hindurchhuschte. Er hob die Flinte, feuerte einen Schuß ab und sah, wie das große Tier umfiel und durch den Schnee rollte. Voller Vorfreude auf den Pelz lief er vor. Der Winterwolf hatte ein besonders kräftiges Fell.
Aber das einzige, was im Schnee zurückgeblieben war, war ein halbes Wolfsohr.
Vater faßte es nicht an. Er holte rasch die Kinder und eilte davon.
Anneli zitterte. Von allen Tieren des Waldes fürchtete sie sich am meisten vor dem Wolf.
Bald schwamm die Sonne auf einem Meer aus Morgengewölk über den Bergen. Im Tageslicht verwandelte sich die dunkle Nacht in einen schlimmen Traum.
3
Ja, die Sonne schwamm auf dem Morgengewölk des Himmels. Endlich würde sie die Kälte des Winters besiegen. Der Frühling war unterwegs!
Der Schnee schmolz, füllte die Bäche bis an den Rand und ließ sie ein rauschendes, glückliches Lied darüber singen, wie herrlich es sei, endlich frei zu sein.
Die Wildgänse kreischten auf ihrem Weg in den Norden – in die Heimat!
Die Buschwindröschen streckten zögernd ihre Knospen aus dem welken Gras. Als sie spürten, daß der Frost sie nicht mehr bedrohte, öffneten sie sich und bedeckten das Erdreich mit weißen Sternen.
An dem Tag, als die Birkenblätter so groß wie Mäuseohren geworden waren, ließ Vater die Ziege und die Kuh auf die Weide. Jetzt mußten sie selbst für ihr Futter sorgen. Das Heu in der kleinen Scheune war bis auf den letzten Halm aufgefressen, und die Tiere hatten schon lange hungrig nach mehr gerufen.
Annelis Füße waren von den harten Rindenschuhen befreit, und auf dem Pfad zur Quelle hinunter gruben ihre Zehen runde Löcher in den Lehm. Beim Wasserholen rutschte sie jetzt nicht mehr aus, und obwohl sie den Eimer fast bis an den Rand füllte, schwappte nichts mehr auf den Rock.
Die kleine Schwester spielte brav vor dem Haus. Der Wald lockte, aber sie wußte, daß es verboten war, dorthin zu gehen. Allzu leicht konnte man sich im Wald verirren. Die Kleine baute einen Stall aus Steinen. Gesammelte Tannenzapfen wurden zu Kühen. Anneli hatte ihr gezeigt, daß man kleine Stecken zwischen die Schuppen der Zapfen stecken konnte, damit die Kühe Beine bekamen. Schwänze herzustellen war schon schwieriger, also mußten die Kühe ohne bleiben.
Tapio lag noch in der Wiege, die an vier Riemen von der Decke herabhing. Aber er war gewachsen und war bald so groß, daß er über den Rand hinauspurzeln konnte. Anneli mußte gut auf ihn achtgeben.
Vater hatte ihr eingeschärft, daß dem Jungen nichts zustoßen dürfe, während Mutter und er draußen auf dem neuen Acker Steine aus der Erde herausbrachen. Diesen Sommer würden sie jeden Tag dort arbeiten müssen, damit sie vor dem Herbst Roggen säen konnten.
Roggen ...
Roggenbrot und Grütze aus Roggenmehl!
Anneli wuchs, genau wie Tapio, und hatte immer Hunger. Vielleicht konnte sie es wagen, für sich und die kleine Schwester ein bißchen Grütze zu kochen! Sie legte einen Holzscheit auf die Glut und leerte eine Schöpfkelle voll Wasser in den Topf. Aber das Heu in der Scheune war nicht das einzige, was zu Ende gegangen war. In der Mehlkiste schimmerte bereits der Boden durch. Mutter würde es sofort merken, wenn Anneli etwas von diesem kleinen Rest nehmen würde.
Und Brot?
Nein, der Brotkasten war leer. Und die paar Tropfen Milch waren für Tapio bestimmt. Die durfte sie nicht berühren.
Anneli schaukelte die Wiege hin und her und kaute dabei auf der Unterlippe. Endlich schlief der Junge ein! Vielleicht konnte sie es wagen, kurz zum Erdbeerplätzchen hinüberzulaufen? Der kleinen Schwester würde sie sagen, daß sie Tannenzapfen suchen wolle. Dann würde die Kleine bestimmt brav sitzen bleiben und weiter spielen. Übrigens könnte Anneli ihr ja auch ein paar Erdbeeren in einem Körbchen mitbringen.
Flink wie der Wind wirbelte sie auf ihren nackten Füßen davon, mit dem Korb überm Arm.
Und tatsächlich! Im Gras unter der Birke leuchtete es fast rot!
Anneli aß, als hätte sie seit endlosen Zeiten nichts mehr zu essen bekommen. Doch bevor sie sämtliche Beeren verschlungen hatte, fiel ihr die kleine Schwester ein.
Beschämt legte sie die letzten Erdbeeren in den Korb.
Da stach ihr ein scharfer Geruch in die Nase.
Rauch!!!