Gian Maria Calonder

Engadiner Abgründe


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      Gian Maria Calonder

      Engadiner Abgründe

      Ein Mord für Massimo Capaul

      Kampa

      I

      Der Gasthof Zum Wassermann lag nicht weit vom Bahnhof Samedan, einem in die Jahre gekommenen Giebelhaus mit pickligem Rohputz, eingekeilt zwischen neueren Zweckbauten. Es sah aus, als wäre es einmal Teil einer ganzen Arbeitersiedlung gewesen, die inzwischen überbaut war, und nur der Wassermann-Wirt hatte sich widersetzt. Der Schaukasten von Elmer Citro war leer bis auf eine Kinderzeichnung der Samedaner Wappengestalt, ebenjenes Wassermanns, und ein mit Schreibmaschine beschriebenes Kärtchen, das mit Stecknadeln an die schimmlige Faserplatte geheftet war: Übernachtung ab 40,–. Laut Tourismusportal im Internet kostete sie inzwischen fünfzig.

      Als Capaul die Tür aufstieß, mit dem Koffer die schweren vergilbten Plastikvorhänge auseinanderschob und sich hindurchzwängte, schlug ihm der Geruch von Kaffee-Schnaps, Kuhmist und Katzenfutter entgegen. Auch die Wirtsstube atmete den Geist alter Tage, über die Tische waren karierte Tücher geworfen, in einer Vitrine standen Pokale und Trophäen von Viehschauen. Am schweren eichenen Stammtisch saßen vier Männer, einen fünften hatte er draußen rauchen sehen. Offensichtlich waren es Bauern, sie trugen Faserpelzjacken und schwere, mit Kot verklebte Schuhe.

      »Guten Tag, geht es hier zu den Zimmern?«, fragte er.

      »Allegra«, sagte einer in einem Tonfall, als wollte er ihn nicht grüßen, sondern zurechtweisen. Die anderen musterten ihn stumm. Capaul war von durchschnittlicher Größe und Statur, eher stämmig als hager, er war unauffällig gekleidet – schwarze Cordsamtjeans, ein schwarz-blau kariertes Flanellhemd und gut eingetragene schwarze Halbschuhe, alles aus der Migros –, allerdings hatte er unüblich hübsche schwarze Augen mit fast endlos langen Wimpern und dunkles Haar voller Wirbel. »Kälbchen« hatte seine Mutter ihn in ihren freundlicheren Phasen genannt. Auch einer der Männer murmelte etwas wie »Jungstier«, dann rief er nach einer gewissen Bernhild.

      Es schepperte in der Küche, und eine kleine, drahtige Frau wohl um die sechzig kam hinter der Theke hervor, wischte die Hände an einer Schürze ab, auf der in roten Lettern stand: Hier kocht der Chef, und richtete mechanisch die Frisur, ein eigenwilliges Gebilde, das Capaul im ersten Moment für ein Eichhörnchen hielt.

      Sie betrachtete ihn mit unverhohlenem Interesse, bis er sagte: »Ich habe ein Zimmer reserviert.«

      Etwas in ihrem Gesicht erlosch. »Das billige, ja? Das muss ich erst parat machen. Die für sechzig hätten das Bad auf der Etage.«

      »Was hat das billige?«

      »Das liegt unterm Dach, das Bad ist also einen Stock tiefer.«

      »Aber es ist dasselbe Bad?«

      »Ja, wir haben nur das eine.«

      »Nein, dann bleibe ich beim billigen.«

      »Nur damit Sie sich ein Bild machen können: Die unteren Zimmer grenzen direkt ans Bad, Sie müssen also nicht erst aufstehen und die Treppe runter, um festzustellen, dass es besetzt ist. Das werden Sie noch schätzen, denn der Flur ist nicht geheizt, und die Septembernächte hier oben sind kühl.«

      »Haben Sie überhaupt andere Gäste?«, wollte er wissen.

      »Das war mehr allgemein gesprochen. Aber hören Sie, das Mittagessen ist auf dem Herd, die Spaghetti kochen gleich über, die Bolognese brennt an. Ich richte Ihnen das Zimmer, kein Problem, aber dann stellen Sie sich so lange an den Herd.«

      »Nein, ich gehe«, sagte einer der Bauern, bevor Capaul reagieren konnte, stemmte sich schwer hinter dem Tisch hervor und ging mit knallenden Schritten in die Küche, womöglich trug er Nagelschuhe.

      Bernhild kramte währenddessen in einer Schublade nach dem Zimmerschlüssel, dann ging sie zu der schmalen Treppe. Capaul nahm den Koffer auf und wollte sie begleiten, doch sie sagte: »Bei mir bekommen die Gäste einen Welcome-Drink. Frank, zapf ihm ein Kleines.«

      Jetzt erst bemerkte Capaul, dass jemand hinter ihm stand, es war der Bauer, der draußen geraucht hatte, offenbar hatte Capaul ihm den Weg versperrt. Freundschaftlich ließ der Mann seine schweren Hände auf Capauls Schultern fallen und schob sich an ihm vorbei, dann zapfte er ihm ein kleines Bier, drückte Capaul das Glas in die Hand und setzte sich zurück an den Stammtisch. »Wo ist der Peter?«, fragte er.

      »In der Küche, abverdienen.«

      »Der Idiot hat auch noch Nein gestimmt.«

      »Viele, die verkauft haben, haben Nein gestimmt.«

      Capaul wollte kein Bier, ihm war noch schlecht von der Fahrt über den Albulapass, weniger der Kurven wegen als der Horden von Motorradfahrern, die offensichtlich die letzten schönen Tage ausreizten. Mehrmals war er grob fahrlässig überholt worden – einmal, als er gerade den kleinen roten Waggons der Rhätischen Bahn nachsah, die in bizarrer Höhe über ein Viadukt zuckelten, vor Schreck hätte er um ein Haar das Auto in die Schlucht gelenkt. Zudem hatte er, wie meist, zu wenig gefrühstückt. Er trat, den Koffer noch in der Hand, an die Theke, um das Bier abzustellen, dann vertrieb er sich die Zeit damit, auf einem Stapel Tischsets die Landkarte des geplanten olympischen Skigebiets zu studieren.

      Am Stammtisch wurde noch immer debattiert. »Ist ja auch egal, verkauft ist verkauft. Allerdings hat der Peter sein Geld nicht ausbezahlen lassen, jedenfalls nicht alles, der hat es stehenlassen. Er hat gehofft, dass es noch mehr wird. Wenn du dein Geld stehenlässt, und gleichzeitig stimmst du Nein, hast du doch einen Vogel.«

      »Das sagt der Richtige, du hast doch auch Nein gestimmt. Und was trägst du auf deinem Idiotenschädel?«

      »Das ist etwas völlig anderes, die Mütze war gratis. Im Gegenteil, wenn einer wie ich die trägt – ich bin ja nun keine Schönheit –, schade ich denen sogar. Negativwerbung nennt sich das.«

      Jener Frank hatte das gesagt. Capaul tat, als suche er im Raum nach einer Uhr, und warf einen Blick auf die Mütze. Sie trug den Slogan der Olympia-Befürworter. Derselbe Slogan zierte die Tischsets. Frank fing seinen Blick auf und zwinkerte ihm zu. Alles war recht rätselhaft.

      »Niemand kann sagen, ob das Nein richtig war«, stellte inzwischen der Älteste am Stammtisch fest, einer mit käsiger Haut und geröteten Augen, die er hin und wieder mit einem arg gebrauchten Stofftaschentuch auswischte. »Und überhaupt: Nachjassen stinkt.«

      »Trotzdem hat der Peter nur wegen den Jungen das Lager gewechselt. Die haben ihn zusammengeschissen, dass er überhaupt verkauft hat, danach wollte er das Geld wenigstens noch rausziehen, aber zu spät. So fand er, das wenigste, was er noch tun kann, ist, Nein zu stimmen.«

      »Ich frage mich, wie lange ihn die Bernhild noch anschreiben lässt.«

      »Wieso, die hat auch Nein gestimmt.«

      »Das meine ich nicht, sie …«

      Dann stockte das Gespräch, denn Bernhild kam quietschenden Schrittes die Treppe herab. Sie trug grasgrüne Crocs.

      »Hier, Ihr Schlüssel«, sagte sie zu Capaul. »Gehen Sie, bringen Sie den Koffer hoch, der verstellt hier alles. Dann kommen Sie essen. Spaghetti Bolognese für acht Franken, mit Menüsalat zehn. Oder ist Ihnen schon das zu teuer?«

      Sie verschwand in der Küche, und Capaul nahm den Koffer wieder auf.

      »Sie meint es nicht so«, erklärte der Triefäugige.

      »Im Gegenteil«, sagte Frank. »Was sich liebt, das neckt sich.«

      »Sagte die Katze und fraß die Maus.«

      Das Pappfähnchen am Schlüssel trug die Zwanzig, an der Tür selbst war die Zwei abgefallen, ein Scherzbold hatte dafür eine zweite Null gemalt. Das Zimmer war winzig und lag in der Dachschräge, aufrecht gehen konnte man nur in einem ellenbreiten Korridor von der Tür zum Schrank. Es gab weder Kommode noch Stuhl, und der Spannteppich roch nach nassem Hund. Um das Kippfenster zu öffnen, musste Capaul sich aufs Bett knien, die Spiralfedern gaben bis fast zum Boden nach. Das Fenster kippte nicht hoch, sondern drehte um die Mittelachse. Als er sich mit sportlichem Schwung von der Matratze erheben wollte, schlug er sich an der Fensterkante