Gian Maria Calonder

Engadiner Abgründe


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wirkten sie gleichzeitig verloren und drohend, und Capaul hätte um ein Haar die Ausfahrt nach Samedan verpasst.

      Auch der Parkplatz des Spitals kostete, und nachdem er geparkt hatte, ging er nochmals zur Schranke zurück, um herauszufinden, wie er zu einem Beleg für die Spesenabrechnung kam, den zu beziehen hatte er in Zuoz versäumt.

      Die Frau an der Pforte verwies ihn an einen gewissen Dr. Hauser, sie sprachen sich im Flur. »Herr Pinggera absolviert noch einen Lungenfunktionstest, der aber bisher unauffällig verläuft«, erklärte Hauser. »Abgesehen von seiner altersbedingten Verwirrung scheint alles in Ordnung. Wenn Sie kurz warten, können Sie ihn gleich nach Hause fahren.«

      Capaul notierte, dann fragte er: »Wenn er verwirrt ist, wie Sie sagen, besteht dann nicht die Gefahr, dass er gleich noch so etwas anrichtet?«

      »Oh, sein Neffe wird sich um ihn kümmern, Pinggera Rudi. Und morgen früh sieht die Spitex vorbei, das ist schon organisiert. Das Wichtigste ist, dass er viel trinkt.«

      Die Bemerkung stieß Capaul darauf, dass er selbst viel zu wenig getrunken hatte, das erklärte seinen wachsenden Brummschädel. Während Hauser zurück zu Pinggera ging, suchte er eine Toilette, um vom Hahn zu trinken. Bevor er sie fand, zupfte ihn eine junge Frau am Arm, die wohl die Schwesternhilfe war.

      »Sind Sie der Polizist?«

      Rainer Pinggera war entlassen worden und wartete in der Cafeteria auf ihn. Er war ein kleines, verkrümmtes Männchen mit roter Strickmütze, das exzessiv in der Nase bohrte.

      »Da drin ist immer noch alles voller Ruß«, erklärte er, als Capaul sich neben ihn setzte und anbot, ein Taschentuch zu besorgen. »Aber geh weg, du, ich warte auf die Polizei.«

      »Ich bin die Polizei.«

      »Du?« Pinggera wollte vielleicht lachen, es kam ein Husten. »Ausweis her.«

      »Den bekomme ich erst am Montag.«

      »Ja, aber davor fängst du dir eine. Der Pinggera Rainer kann sich wehren. Bist du überhaupt volljährig? Richte denen aus, wenn sie mich schon umbringen lassen wollen, dann durch einen richtigen Kerl. Oder noch besser durch so eine Killerblondine.«

      »Niemand will Sie umbringen«, versicherte Capaul. »Sie sollten nur diesen Ofen nicht mehr benützen, den Rextherm. Sie hatten sehr viel Glück.«

      »Sieh mich an«, befahl Pinggera. »Ein Leben lang war ich vom ersten April bis zum ersten Oktober in kurzen Hosen unterwegs, aus Prinzip, außer zum Holzen. Und was haben wir? September. Im September werde ich wohl heizen.«

      »Sie tragen keine kurzen Hosen«, bemerkte Capaul.

      »Nein, weil mir die neue Mode nicht gefällt. Wir hatten einen fahrenden Händler aus dem Vorarlberg, den Gustl. Irgendwann hat er übergeben, der Nächste auch, aber wir nannten sie alle Gustl. Gustl kam mit dem Handkarren, einmal im Jahr, und zwar im Juni, er brachte die Ware, die man bestellt hatte, dann zeigte er den Katalog, und man bestellte fürs nächste Jahr: Heuhemden, Wollhosen, Melkmützen. Anno ’97 kam er das letzte Mal, es hat ihm nicht mehr rentiert. Seither trage ich auf, was ich noch habe, danach kann ich sterben. Aber wie gesagt, das ist Qualitätsware, so schnell werdet ihr mich nicht los.«

      »Ich will Sie nur heimbringen.«

      »So nennt ihr das. Ich gehe mit keinem als mit Rudi.«

      »Das ist Ihr Neffe, ja? Ich sorge dafür, dass man ihn ruft.«

      Er tat es, danach warteten sie schweigend, Capaul sah Pinggera beim Nasebohren zu. Manchmal erwiderte Pinggera den Blick, sah ihn forschend an, und endlich sagte er: »Du hast Augen wie eine Kuh. Das ist ein Kompliment, woher hast du die?«

      »Es hieß, von meinem Vater. Der war Sizilianer.«

      »War? Hast du ihn auch kaltgemacht?«

      »Niemand will Sie kaltmachen«, versicherte Capaul nochmals. Er wollte sich eben erkundigen, ob die Empfangsfrau Rudi erreicht hatte, da kam er durch die Tür, und Capaul begriff, warum Dr. Hauser den Namen so herausgestrichen hatte, als müsste man ihn kennen.

      Pinggera Rudi trug Sportkleidung, doch im Gegensatz zu der italienischen Sippschaft in Ski-Vollmontur, die den Empfang blockierte und dabei wie ein Pulk Osterhasen aussah, kam er daher wie ein Prinz.

      Sein silberfarbener Ski-Anzug war offensichtlich maßgeschneidert, dazu hatte er den lässigen Gang eines Menschen, dem in seinem Leben alles glückt.

      »Ach, Onkelchen«, rief er quer durch den Raum, »muss man dich jetzt rund um die Uhr bewachen?«

      II

      »Du hättest mich sehen sollen«, erzählte Rainer Pinggera seinem Neffen, während sie ihn zu Rudis Auto führten. Es stand nicht auf dem Besucherparkplatz, sondern im Personalbereich gleich beim Eingang. »Ich mit dem Gartenschlauch wie damals der Jenatsch. Ich sage dir, so leicht erledigen sie mich nicht.«

      »Welcher Jenatsch? Der Schuhmacher von Ftan?«

      »Nein, der Kämpfer natürlich, der Jenatsch eben.«

      »Der Jürg? Den haben sie aber sehr wohl erledigt. Erst hat ihn einer, als Bär verkleidet, über den Haufen geschossen, die anderen sind danach mit Axt und Knüppeln über ihn her. Ich muss es wissen, Onkelchen, ich war im Schultheater der Bär.«

      »Dann eben nicht wie der Jenatsch. Du hättest mich trotzdem sehen sollen.«

      Rudi steuerte einen silbernen Mercedes C-Klasse an.

      »Sind Sie der neue Polizist?«, fragte er.

      »Ab Montag«, sagte Capaul.

      »Ab Montag, und schon eingespannt?« Rudi lachte. »Lassen Sie mich raten, Sie sind Anfänger.«

      »Ich arbeite gern«, sagte Capaul nur. »Ich habe bloß noch keinen Ausweis.«

      Der Alte beschwerte sich: »Was flirtet ihr zwei Turteltäubchen da die ganze Zeit? Schließ auf. Oder besser, bring mich zurück, ich muss aufs WC. Die haben mich saufen lassen, dass es mir zu den Ohren rauskommt.«

      Also gingen sie zurück, Rudi wusste, wo die Toiletten waren. Capaul wollte die Gelegenheit nutzen, um endlich zu trinken, doch Rudi hielt ihn zurück. »Ich glaube, das schafft er allein«, sagte er lächelnd, und ehe Capaul sich erklären konnte, fragte er: »Was ist eigentlich Ihre Lieblingsdisziplin?«

      »Lieblingsdisziplin? Ich verstehe nicht.«

      »Sport, ich rede natürlich von Sport.«

      »Ach so.«

      »Polizisten sind Sportskanonen. Also was? Skifahren? Tennis? Oder sind Sie etwa Leichtathlet?«

      »Ich wandere gern«, sagte Capaul aufs Geratewohl.

      Rudi lachte. »Kommt man heutzutage mit Wandern durch den Eignungstest?«

      »Nein, da habe ich mich durchgebissen«, sagte er offen, doch Rudi redete schon weiter.

      »Meine ist das Skifahren. Und inzwischen Tennis. Natürlich golfe ich auch, die wichtigen Deals werden fast immer auf dem Golfplatz abgeschlossen. Wissen Sie was? Ich nehme Sie mit.«

      »Ich habe keine Ahnung von Golf. Ich weiß nicht …«

      »Nein, auf dem Golfplatz hat einer wie Sie auch nichts verloren. Ich rede vom Skifahren.« Er öffnete die Toilettentür und rief: »Onkelchen, lebst du noch?«

      Man hörte ein Stöhnen, dann krächzte der Alte: »Ja, ja, es dauert halt. In meinem Alter macht man kein Wettbrunzen mehr.«

      »Dann lass dir Zeit.« Rudi schloss die Tür und sah Capaul mit stahlblauen Augen an. »Und? Kommen Sie mit?«

      »Das hat ja noch Zeit. Erst muss es schneien.«

      »Diese Flachländer, von Tuten und Blasen keine Ahnung!«, rief Rudi und verdrehte clownesk die Augen. »Was glauben Sie, wo ich gerade herkomme? Zermatt, Klein Matterhorn, herrliche Pisten. Zu der Zeit, als ich noch Rennen gewonnen habe, konnte man