Gian Maria Calonder

Engadiner Abgründe


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Bernhild platzierte ihn zu einem Trupp Maler oder Gipser, sie waren jedenfalls in weißen Overalls. Seine Portion stand schon bereit, Menüsalat inklusive. Bernhild trug ihm die Stange Bier nach und fragte: »Ist das Zimmer recht?«

      Er zögerte. »Die Aussicht ist schön. Wie heißt der Berg?«

      »Piz Padella. Sind Sie gut zu Fuß? Es gibt dort schöne Wanderwege. Gratis.«

      Capaul hörte ihren Unterton und fühlte, wie er errötete. »Ich bin nicht in den Ferien. Ich bin der neue Polizist. Das heißt, ab Montag.«

      »Polizist, Sie?« Es schien, als würde sie eine spitze Bemerkung hinunterschlucken. »In dem Fall eilt es mit dem Meldezettel wohl nicht«, sagte sie dann nur und wartete, bis er die erste Gabel im Mund hatte. »Schmeckt’s?«

      Er antwortete nicht darauf, sondern fragte nur zurück: »Wo kann ich eigentlich parken? Mein Auto steht jetzt unten an der Straße, ich glaube, der Parkplatz gehört einem Stromunternehmen.«

      Die Gipser, die mitgehört hatten, lachten über die Frage, und der Jüngste, ein Blondschopf, sagte: »Eine Buße werden Sie als Polizist ja wohl nicht kriegen.«

      Capaul wusste darauf nichts zu erwidern, er trank jetzt doch einen Schluck Bier.

      Währenddessen klingelte das altbackene Wandtelefon. Peter kam aus der Küche, nahm ab, dann rief er: »Ein Massimo Capaul?«

      Er erhob sich.

      »Polizei«, sagte Peter noch und gab ihm den Hörer.

      Es war Linard, Polizist im zweiten Jahr. »Der Dienst ruft. In Zuoz brennt eine Scheune, fahr hin und schreibe den Rapport. Wir sind gerade unterwegs zum Malojapass. Dort hat’s gekracht, zwei Töffs.«

      »Ich habe noch nicht mal den Dienstausweis.«

      »Du sollst auch keinen verhaften. Der Rapport ist für die Versicherung.«

      Capaul hängte auf, borgte von Bernhild einen Block – Calanda Bräu stand auf jedem Blatt – und ging zu seinem Auto, einem grün metallisierten Chrysler Imperial Automatic, Baujahr 1982. Unter dem Scheibenwischer fand er einen Strafzettel, sauber gefaltet. Er setzte sich in den Wagen, entfaltete ihn und las: Capaul, Capaul, das fängt ja gut an!

      Die Weite des Tals, die scharf gezeichneten Berggrate und der veilchenfarbene Himmel versöhnten ihn gleich wieder, und nachdem er in Zuoz gebührenpflichtig beim Bahnhof geparkt hatte, genoss er beim Aufstieg in den Dorfkern die klare, würzige Luft. Zuoz gefiel ihm besser als Samedan, das Sitz der Kreisverwaltung war und entsprechend geheimnislos. Auch Zuoz war an seinen Rändern hässlich überbaut, doch der Dorfkern war bezaubernd: Ausladende alte Häuser mit schweren Toren und trutzigen Mauern standen um einen mit kopfgroßen Flusssteinen gepflasterten Platz wie Kühe um die Tränke. Die kleinen, nach innen versetzten Fenster gaben ihnen etwas Verschlafenes, und selbst die fast überall aufgepinselten Wappen hatten etwas eher Rührendes als Stolzes.

      Gebrannt hatte es links vom Dorfplatz, im bescheideneren Ortsteil hinter Somvih, wobei »bescheiden« relativ war, denn auch hier standen wuchtige fünfhundertjährige Häuser, nur waren sie heruntergekommener.

      Dem Haus, zu dem man ihn wies, hätte zumindest ein Anstrich gutgetan: Von der Fassade blätterten mehrere Schichten Farbe. Die Dachtraufe hing, und hier und da zerfiel ein Fensterrahmen oder -laden. Das einzige erhaltene Wappen, direkt unter der Traufe in eine Ecke gequetscht, zeigte den Bündner Steinbock.

      Spuren eines frischen Brandes konnte er nicht entdecken, dafür saß eine brünette Feuerwehrfrau auf dem Treppenmäuerchen zum Heustall, spielte auf den Stufen mit ihrem Helm Karussell und reichte ihm, als er sich vorstellte, eine leicht schwitzige Hand. Ihren Namen verpasste er.

      »Alles halb so wild«, berichtete sie. »Der Alte, der hier wohnt, ein Rainer Pinggera, hat Schlimmeres verhindert. Eine Art Heizgebläse hat Altpapier in Brand gesetzt, er hat mit dem Gartenschlauch Wände und Balken abgespritzt, damit das Feuer sich nicht ausbreitet. Bestimmt war es mehr Glück als Klugheit, dass er den Strahl nicht auf das Gebläse gerichtet und einen Stromschlag gekriegt hat. Wir haben das Teil vom Netz getrennt und das Feuer erstickt. Eine Sache von Minuten.«

      »Wann genau war das?«

      »Der Alarm kam zehn nach zwölf, zwanzig nach war alles vorbei, würde ich sagen.«

      »Hatte er selber das Feuer gemeldet?«

      »Nein, er hat am Brandherd ausgehalten, bis wir kamen. Touristen haben in der Bäckerei Klarer Bescheid gesagt, von dort hat jemand angerufen.«

      Capaul notierte alles auf sein Blöcklein.

      Sie sah ihm zu. »Wie einer von der Polizei siehst du zuletzt aus.«

      »Die Uniform macht viel aus. Darf ich hinein?«

      Sie lachte. »Das meine ich. Du bist die Polizei, was fragst du? Muss ich dich führen?«

      Er versuchte zu lächeln, dann fragte er: »Wo finde ich diesen Pinggera?«

      »Wir haben ihn zur Kontrolle ins Spital nach Samedan gebracht. Er wirkte verwirrt, außerdem kamen Chemikalien in Brand. Möglich, dass er eine Vergiftung hat.«

      »Wohnt sonst noch jemand hier?«

      »Ja, im oberen Stock. Rita und Fadri, aber die reisen seit drei Wochen durch die amerikanischen Nationalparks.«

      Bevor Capaul den Stall betrat, schrieb sie ihm noch ihre Nummer auf den Block. Sie hieß Luzia. »Mir gehört der Geschenkladen bei der katholischen Kirche. Ich habe auch Kissen und Handtücher, für den Fall, dass du dich noch einrichten musst.«

      Er murmelte etwas und nahm die Rampe, die hinunter in den Viehstall führte.

      »Der Brand war oben im Heustall«, rief sie ihm nach.

      Die Stallungen boten Platz für sicher drei Dutzend Vieh und waren sauber gewischt. Selbst die Abläufe waren rein gehalten, das Löschwasser war schon fast versiegt. In einer Ecke hingen Viehketten, in einer anderen stapelten sich Pappschachteln von Elektrogeräten des vergangenen Jahrhunderts.

      Eine Leiter führte hinauf in den Heustall. Auch dort war alles ordentlich und gepflegt, vieles sah aus, als wäre es noch in Gebrauch, die Werkbank mit dem Schnitzzeug, den zahlreichen Hobeln, Messern und dem Werkzeug für die Weißküferei etwa oder der Malschrank. Die Eisengewichte der alten Waage waren frisch gefettet, keine Spur von Rost, und an einer der Sensen, die gemeinsam mit Sicheln, Harken, Hacken, Schaufeln, Spaten und anderem Gartengerät die Wand zum Wohnteil verstellte, klebte noch frisches Gras. Die meisten Gerätschaften sahen handgearbeitet aus, ausnahmslos alles war Vorkriegsware, manches sorgsam geflickt, nichts kaputt.

      Den Brand ausgelöst hatte ein kleiner gelber Heißluftventilator, Marke Rextherm, der unter der Werkbank stand. Die Feuerwehr hatte, um die Stromzufuhr zu kappen, schlicht den Stecker gezogen. Capaul konnte sich denken, dass man kalte Füße bekam, wenn man hier im Winter hobelte: Zu drei Seiten hin war der Heustall großflächig nur mit Latten verkleidet, in die Verzierungen gesägt waren, die den Durchzug verstärkten. Den Brand schien eine Verkettung unglücklicher Umstände ausgelöst zu haben: Der Alte hatte unter der Werkbank einige Zeitungsbündel gestapelt gehabt, eines war offenbar vom Stapel gefallen und hatte eine Spanholzkiste derart angestoßen, dass die daraufliegende Schachtel Skiwachs und Belagsreiniger auf jenes Bündel gerutscht und damit direkt der Heißluft ausgesetzt gewesen war. Das Wachs war geschmolzen, hatte das Papier getränkt, dieses hatte sich entzündet, und die aufsteigende Hitze hatte eine Plastikflasche mit Farbreiniger schmelzen lassen, die auf der Werkbank gestanden und deren Inhalt ebenfalls zu brennen begonnen hatte. Glücklicherweise waren die Flammen schnell verpufft und hatten sich nirgends tiefer ins Holz gefressen, verkohlt war lediglich die Unterseite der Werkbank.

      Um den Rapport abzuschließen, brauchte Capaul nun bloß noch Pinggeras Aussage und Unterschrift sowie eine Stellungnahme des Arztes, bei dem er eingeliefert worden war. Dass er noch einen Blick in den Wohnteil des Hauses werfen wollte, war pure Neugierde. Er kam auch nicht weit, auf halbem Weg erschreckte ihn eine fuchsrote Katze, die ihm plötzlich von einem der Heuböden vor die Füße sprang,