Gian Maria Calonder

Engadiner Abgründe


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darauf nur: »Ihr Auto ist vorschriftswidrig geparkt.« Es stand mitten in der Gasse.

      Rudi winkte ab. »Das ist kein Problem, hier kennen mich alle. Wenn einer durchwill, meldet er sich. Jetzt kommen Sie, Sie sehen ganz durchgefroren aus.« Er schloss die Tür auf und führte ihn ins Haus. »Ich bringe den Polizisten«, rief er. »Er will dir helfen, damit die Versicherung den Schaden zahlt.« Dann fragte er Capaul: »Das stimmt doch, oder?«

      Capaul zögerte. »Das ist einer der Zwecke des Rapports.«

      Sie zogen die Schuhe aus und betraten eine enge Stube. Es sah aus, als hätte seit dem Krieg die Zeit stillgestanden: geklöppelte Deckchen auf den Armlehnen der Sessel, die Deckenlampe noch mit Kerze, das Linoleum mit Messingleisten und zahllosen Schräubchen verlegt. Gleichzeitig war alles penibel sauber gehalten, es roch nach Schmierseife und Javelwasser.

      »Putzen Sie noch selbst?«, fragte er den Alten, während er niederkniete, um das modernste Objekt im Raum zu betrachten, einen Röhrenfernseher von Blaupunkt, wohl eines der ersten Farbmodelle.

      »Natürlich, wer sonst?«

      »Das stimmt nicht ganz, Onkelchen. Lina hilft dir.«

      »Schweig du still, Lina geht die Polizei nichts an.«

      Capaul notierte Schwarzarbeit?, doch nur um der Ordnung willen. »Wer räumt denn auf?«

      »Ich«, versicherte der Alte. »Die Augen wollen nicht mehr, ohne Ordnung wäre ich am Arsch.«

      Rudi lachte. »Du warst schon immer ein Pedant.«

      »Ja, ja, ja.« Der Alte winkte missmutig ab. »Was muss ich denn jetzt erzählen?«

      »Wie es war«, bat Capaul.

      »Wobei du nicht sagen solltest, dass du vergessen hast, das Öfelchen auszuschalten, Onkel, sondern dass du die Stecker verwechselt hast.«

      »Welche Stecker?«

      »Du wolltest Licht machen, deiner Augen wegen, stattdessen hast du das Öfelchen eingesteckt, und dummerweise war es noch an.«

      »Aber ich habe keine solche Lampe im Stall. Keine, die ich einstecken könnte.«

      »Dann hast du dich eben geirrt, das kommt vor. Du hast dir kurz eingebildet, du seist im Schlafzimmer. Es geht nur darum, dass diese Öfelchen inzwischen verboten sind. Die Versicherung zahlt nichts, wenn du das Öfelchen mit Absicht verwendet hast.«

      »Habe ich auch nicht. Aber ich verstehe dich nicht. Das Einzige, was kaputtgegangen ist, ist dieses Öfelchen. Was soll die Versicherung dann überhaupt bezahlen, wenn nicht das Öfelchen? Und wozu bitte habe ich Licht gebraucht?«

      »Du wolltest doch die Klobrille reparieren«, erinnerte ihn Rudi. Zu Capaul sagte er: »Er hat noch ein Plumpsklo, die Brille ist aus Holz, und als er auf sie gestiegen ist … Wieso eigentlich?«

      »Was ›wieso‹?«

      »Wieso bist du auf die Brille gestiegen? Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn du ins Klo gefallen wärst.«

      »Die Glühbirne ist kaputt. Dort habe ich nämlich wirklich eine Lampe, nur ist dauernd die Birne kaputt.«

      »Ich wechsle sie dir nachher. Nächstes Mal steigst du nicht mehr hoch, lass einfach die Tür auf, dann scheint die Straßenlampe herein.«

      Rudi ging hinaus, um sich die Sache anzusehen. Rainer Pinggera rief ihm nach: »Ich habe eine Taschenlampe. Aber kannst du beim Licht einer Taschenlampe sehen, ob dein Hintern sauber ist? Ich nicht.«

      Capaul ging Rudi hinterher. Das Klo lag am Ende eines schmalen Balkons, eine leere Glühbirnenfassung hing direkt über der Schüssel.

      »Wunderbar«, sagte Capaul gerührt. »Überhaupt ein wunderbares Haus.«

      Rudi hatte nicht die Lampe untersucht, sondern am Brett gerüttelt, auf dem die Brille gelegen haben musste. »Das ist wohl Geschmackssache«, sagte er und richtete sich auf. »Eine richtige Toilette sollte er sich schon gönnen. Was heißt gönnen, ich würde sie ihm ja bezahlen. Aber der sture Bock nimmt nichts an. Wissen Sie, was er für die obere Wohnung an Miete verlangt? Dreihundertfünfzig Franken. Schön, sie hat keine Zentralheizung, und zum Bad muss man durchs Treppenhaus. Aber dreihundertfünfzig Franken in Zuoz, wo die popeligste Eigentumswohnung eine Million kostet.«

      Rainer Pinggera rief von drinnen: »Rudi, bring mal meine Brille.«

      »Deine Brille? Seit wann benutzt du denn die?«

      »Die Klobrille natürlich, wovon reden wir die ganze Zeit?«

      Capaul schlug vor: »Wenn Sie mir eine Glühbirne geben, schraube ich sie inzwischen ein.«

      »Steigen Sie da bloß nicht hoch, das Brett ist nämlich lose«, sagte Rudi und ließ ihn stehen. Während er im Stall die Brille holte, sah Capaul sich all das Schnitzwerk im Treppenhaus an, eine Uhr, einen Schrank, zwei Truhen. Den Schrank öffnete er einen Spalt weit, in ihm stapelten sich, aufs Akkurateste gefaltet, Putz-, Geschirr- und Leintücher.

      Dann kam Rudi wieder, sie gingen zurück in die Stube, und der Alte fragte: »Rudi, sieh nach, ob er etwas eingesteckt hat. Ich habe gehört, wie er herumgeschnüffelt hat.«

      »Erklär mir lieber, wie du das hier flicken wolltest, Onkel.« Er drückte ihm mehrere Holzteile in die Hand.

      »Ui, ui, ui«, sagte der Alte und breitete sie auf dem Tisch aus, um sie genauer zu betrachten. »Als ich sie in den Stall genommen habe, hatte sie nur einen Riss. Ich habe sie wohl fallen lassen.«

      »Ja, so sah es aus, die Teile lagen auf dem Boden verstreut.«

      Der Alte seufzte, dann sah er sich nach Capaul um.

      »Glauben Sie, die Versicherung könnte mir eine neue Brille bezahlen? Wobei ich gar nicht wüsste, wo man so was noch bekommt. Das ist beste Handarbeit. Rudi, die hat dein Großvater geschnitzt.«

      Rudi zwinkerte Capaul zu. »Bestimmt bezahlt die Versicherung das. Und ich kenne im Münstertal einen guten Antikschreiner. Aber dann musst du Herrn Capaul auch endlich erzählen, was passiert ist. Oder was passiert sein könnte. Also, du wolltest die Brille leimen und bist dafür in den Stall gegangen …«

      »Leimen? Du hast keine Ahnung! Damit das hält, muss man so was schrauben oder zapfen, und danach muss man lackieren, schleifen, wieder lackieren. Sonst bleibt womöglich ein Spalt, in dem man sich was einklemmt. Hast du dich mal am Reißverschluss eingeklemmt? Dann weißt du, wovon ich rede.«

      »Onkelchen, ich habe noch anderes zu tun. Sagen wir, du wolltest sie flicken, dazu hast du Licht gebraucht. Du wolltest die Lampe einstecken, obwohl du dort keine hast, ich weiß, aber du hast eben gedacht, du hättest eine, und stattdessen hast du das Öfelchen eingesteckt. Könnte es so gewesen sein?«

      »Nein, wie soll das gehen?«, rief der Alte. »Ich stecke das Öfelchen ein, und der Stall steht in Flammen? So ein Öfelchen ist doch kein Bunsenbrenner. Du bist ein miserabler Lügner.«

      »Wie war es denn wirklich, Herr Pinggera?«, fragte Capaul, während er eine Kuckucksuhr an der Wand betrachtete.

      »Wie es war? Es hat gebrannt, als ich kam. Das Öfelchen hat ganz normal geblasen, und davor hat es gebrannt.«

      »Die Zeitungen und der Farbverdünner?«

      »Wieso?«

      »Da gibt es kein Wieso«, schaltete sich Rudi ungeduldig ein. »Du hattest dort nun mal Zeitungen und offenbar Verdünner liegen, die Polizei erfindet so was nicht.«

      »Nein, ich habe dort keine Zeitungen. Die Zeitungen sind im Schuppen, nicht im Stall, das weißt du doch, du trägst sie mir immer raus.«

      »Da waren Zeitungen, Verdünner oder Pinselreiniger und Skiwachs«, versicherte Capaul. »Brandverursacher war das Skiwachs.«

      Der Alte wurde still.

      »Was ist, Onkelchen?«

      »Nichts. Ich glaube, ich kann auch ohne das Öfelchen.«