Gian Maria Calonder

Engadiner Abgründe


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sich per Gallone. Er erfuhr endlich, dass in Kaffeerahm kein Rahm steckt, sondern Abfallmolke, und dass Handwerker diese Abfallmolke echter Milch im Kaffee ebenso vorziehen wie sogenanntes Sägemehl dem echten Parmesan.

      Als sie zwischen Lasagneblättern und Kehrbesen für Kinder schließlich einen Sonderposten Henna entdeckten, brachte sie ihm außerdem bei, dass die Wahl der perfekten Haarfarbe in keiner Weise Geschmackssache ist, sondern vom Hautton, der Augenfarbe und sogar der Lippenform abhängt: Je voller die Lippen, desto dunkler die Färbung. Bernhilds perfekter Farbton war leider schon aus.

      Das viele neue Wissen machte Capaul regelrecht beschwingt. Der Dämpfer kam erst, als ihm sein Chrysler wieder einfiel, der noch immer unerlaubt auf dem Gebührenparkplatz in Samedan stand. Nun hatte er es eilig, zurückzufahren, was nicht nur beiden auf die Laune schlug, es beschleunigte die Sache auch nicht, weil er bei den Lichtsignalen an all den Baustellen regelmäßig den Motor abwürgte – zweimal verpassten sie so die Grünphase. Dann setzte Bernhild sich ans Steuer.

      Beim Bahnhofskreisel ließ sie ihn raus, von dort war es nur ein paar Schritte bis zum Parkplatz. Erst als Capaul den Chrysler aufschloss, entdeckte er eine Wegfahrsperre am linken Vorderrad, unter dem Scheibenwischer klemmte ein zweiter Bußzettel. Darauf stand: Links, rechts, links, hinterm Hauptmann stinkt’s.

      Kurz dachte er daran, auf dem Revier den Schlüssel für die Wegfahrsperre zu holen. Doch dann fiel ihm ein, dass Linard ihn sicher mit auf den Ofenpass genommen hatte, also ging er zum Wassermann, um Bernhild ausladen zu helfen.

      Sie fragte nicht, warum er gekommen war, doch als er Hand anlegen wollte, winkte sie ab. »Die verderbliche Ware ist bereits drin, das andere eilt nicht. Fahren wir lieber gleich los, auf ein Tänzchen mit dir in der Padellahütte hatte ich mich nämlich am meisten gefreut.«

      Sie wollte ihn sogar wieder ans Steuer lassen. Aber Capaul sagte: »Wenn ich aussuchen darf, sehe ich mir lieber die Landschaft an. Ihr habt es schon verflixt schön hier oben.«

      IV

      Er war auch deshalb froh, dass Bernhild fuhr, weil auf dem Bergsträßchen – oft kaum mehr als ein Pfad – gleich mehrmals ein Gemeindefahrzeug die Durchfahrt versperrte, Wegmacher schlugen mit Signalfarbe gestrichene Pfosten ein, um die Fahrbahn für den Winter zu markieren. Dabei brannte die Sonne fast sommerlich, über den Wiesen und zwischen den Lärchen flimmerte der Staub, und das Bergpanorama schien mit jeder Kurve an Tiefe und Kraft zu gewinnen. Im Vorbeifahren nannte ihm Bernhild die Flurnamen, und sie sprach sie so rund und geschliffen aus, als lutsche sie ein Bonbon: Crap Sassella, Bugliets, Muntarütsch, Surpunt Dadeins. Obwohl der Citroën Jumper stank und polterte, fühlte Capaul je länger, je mehr den Hauch von Ewigkeit, von dem einer seiner Ausbilder ihm vorgeschwärmt hatte, nachdem bekannt geworden war, dass Capaul die Stelle in Samedan bekam.

      Als er Bernhild davon erzählte, setzte sie noch einen drauf: »Sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit«, zitierte sie erst Friedrich Nietzsche, danach gab sie gleich eine ganze Reihe Zitate zum Besten, herausgegeben vom Tourismusverein Engadin in einer Broschüre eigens für die Wirte und Fremdenführer des Tals. Das ihres Erachtens schönste, eines von Proust, sagte sie gleich mehrmals auf: »Wir haben einander geliebt in einem verlorenen Örtchen des Engadins, das einen zweifach süßen Namen trägt. Ringsum gibt es drei seltsam grüne Seen, die zwischen tiefen Tannenwäldern liegen.«

      Danach herrschte im Citroën Jumper einen Augenblick lang eine Art aufgeladene Stille. Capaul brach sie, indem er fragte: »Der St. Moritzersee, der Silsersee, und welcher ist der dritte?«

      »Eigentlich sind es ja vier«, antwortete Bernhild etwas widerwillig, »der Champfèrersee und der Silvaplanersee.« Gleich darauf erreichten sie die Padellahütte.

      Die Kehrausparty war in vollem Gang, die Veranda gestoßen voll mit Menschen. Viele saßen in der Sonne und tranken, doch in der Hütte wurde auch getanzt, zu Ziehharmonika und Bass, und ein Junge, dessen verklärter Blick etwas Engelhaftes hatte, schlug mit Löffeln den Rhythmus. Während Capaul und Bernhild sich durch die Menge schoben, stimmte die Musik Alles fährt Ski an, wohl zu Ehren des Pinggera Rudi, denn er schwang mit einer älteren Frau das Tanzbein, der Mutter des Hüttenwarts, wie Bernhild ihm zurief.

      Bernhild schwang mit ihm auch gleich die Arme, doch auf einen richtigen Tanz ließ Capaul sich nicht ein. »Ich hätte im Wirtshaus noch auf die Toilette gehen sollen«, sagte er und ließ sie stehen.

      Vor allem wusch er ausgiebig das Gesicht, denn mit zunehmender Höhe waren die Kopfschmerzen wieder stärker geworden, und er hoffte, die Kälte würde sie vertreiben. Doch das eisige Wasser machte, dass er sich noch mehr verspannte. Während er den Nacken massierte und aufs Geratewohl einige Stellen drückte, die er für Akupressurzonen hielt, kam Rudi in den Waschraum.

      »Die meinen es ja jeweils nur gut«, stöhnte er, »doch ich kann dieses Alles fährt Ski nicht mehr hören. Und Sie, wer sind Sie heute, Linard Meier oder Capaul?«

      Capaul überging die Frage. »Wie geht es Ihrem Onkel?«, erkundigte er sich.

      »Blendend, er amüsiert sich draußen. Ich glaube, er spielt Karten. Er war mal Preisjasser, eine richtige Wettkampfsau. Von irgendwem muss ich das Gen ja haben. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie zu ihm.«

      »Gern«, sagte Capaul. Doch dazu mussten sie an der Theke vorbei, und im Gedränge verlor er Rudi. Er sah eine Weile zu, wie Bernhild mit Peter, einem ihrer Stammgäste, tanzte, dann quetschte er sich durch die Masse, um an die frische Luft zu kommen. Er war fast draußen, als ihn jemand am Arm festhielt, es war Luzia.

      »Du hast ja schnell herausgefunden, wo man sich trifft«, schrie sie ihm ins Ohr. »Wie wär’s mit einem Tänzchen?«

      »Ich kann nicht tanzen.«

      »Dann ein Gläschen.« Den glühenden Wangen nach schien sie schon einige intus zu haben, es wäre auch nicht nötig gewesen, dass sie so schrie.

      »Ich bin im Dienst«, behauptete er.

      Doch sie lachte nur. »Diesen Dienst kenne ich. Linard hat mir verraten, dass alles nur ein Spaß war.«

      »Was heißt Spaß? Außer mir war niemand da, um den Fall aufzunehmen.«

      Luzia zuckte mit den Schultern. »Klärt das besser untereinander.«

      Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, doch nun hielt er sie zurück. »Hast du ihn gesehen?«, fragte er.

      »Linard? Der hat Dienst.«

      »Nein, den alten Pinggera.«

      »Ja, der war hier, aber das ist eine Weile her.«

      »Und Annamaria?«

      »Welche Annamaria?«

      »Ich weiß nicht, ich glaube, sie ist Rudis Freundin.«

      Doch die schien sie nicht zu kennen, sie schüttelte den Kopf und mischte sich unter die Tanzenden.

      Als Capaul die Veranda erreichte, stand Bernhild mit Peter am Zaun, er rauchte, sie leistete ihm Gesellschaft.

      »Stand dir jemand auf der Leitung?«, fragte sie gereizt. »Ich dachte, wir sind zusammen hier.«

      »Ich habe den alten Pinggera gesucht. Kennst du eine Annamaria? Er wollte gestern, dass sie mitkommt mit Rudi und ihm.«

      Bernhild zeigte auf eine Mittvierzigerin, das Haar mit einem roten Glarner Tüchlein zurückgebunden, die bei einer Jassrunde älterer Männer saß. Sie warf Kommentare ein, die Männer lachten, und Annamaria wirkte darüber jedes Mal von Neuem überrascht. In ihrer ganzen Erscheinung hatte sie etwas Rührendes, irgendwie Bedürftiges. Wie sie und der knallige Rudi zusammenpassen sollten, konnte Capaul nicht begreifen.

      Während er sie beobachtete, sagte jener Peter: »Es stimmt, sie sind zu dritt gekommen, Rudi, sein Onkel und sie.«

      Capaul stellte sich zur Jassrunde, wartete, bis Annamaria ihn ansah, und fragte: »Entschuldigung. Rainer Pinggera, wo finde ich den?«

      Sie stand gleich höflich auf. »Drinnen, nehme ich an. Er wollte