sie den Schlafenden Palast fanden. Und bisher hatte er sich all ihren Versuchen, ihn ausfindig zu machen, widersetzt. Als Séverins Strom von Berichten schließlich versiegt war, hatte der Orden die Suche selbst in die Hand genommen. Für sie und die anderen hatte es demnach keine Winterversammlung mehr geben sollen. Ihr einziger Trost war gewesen, dass sie so wenigstens nicht Séverins Mätresse mimen musste.
Doch wie es nun aussah, käme sie nicht darum herum.
Mit einem Mal drang ein Geräusch zu Laila durch, das ihr zu folgen schien. Das beständige Klipp-klapp von Pferdehufen. Sie blieb stehen und drehte sich langsam um. Eine indigoblaue Kutsche, versehen mit silbernen Ziselierungen, hielt in etwa anderthalb Meter Entfernung. Ein vertrautes Symbol – ein breiter Halbmond, der aussah wie ein listiges Grinsen – schimmerte auf der Tür, die auch sogleich aufschwang.
»Ich bin enttäuscht, dass du mich zu deinem Stelldichein gestern Abend nicht eingeladen hast«, erklang eine ihr wohlbekannte Stimme.
Aus der Kutsche lehnte sich Hypnos und warf ihr eine Kusshand zu. Laila lächelte, fing den Kuss auf und ging auf ihn zu.
»Dafür ist das Bett zu klein«, sagte sie.
»Ich hoffe, das trifft nicht auch auf deinen Gast zu«, erwiderte er und grinste anzüglich. Er zog einen Brief mit Séverins Siegel aus dem Sakko. »Wie ich vermute, wurdest auch du einbestellt.«
Zur Antwort hielt Laila ihren eigenen Brief hoch. Hypnos grinste und machte Platz für sie.
»Lass uns gemeinsam fahren, ma chère. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Laila spürte einen Stich in der Brust.
»Wem sagst du das«, gab sie zurück und stieg ein.
Enrique
Zum fünften Mal in dieser Minute strich Enrique Mercado López sich übers Haar und das blütenweiße Hemd. Er räusperte sich. »Meine sehr verehrten Herren Ilustrados, ich danke Ihnen vielmals, dass Sie heute hier erschienen sind, um meinem Vortrag über antike Weltmächte beizuwohnen. Zur Veranschaulichung habe ich Ihnen eine Auswahl von Schmiedekunstobjekten aus aller Welt mitgebracht. Ich bin der Überzeugung, wir sollten uns bei unserem Streben nach der Unabhängigkeit der Philippinen von historischen Erkenntnissen leiten lassen. Formen wir mithilfe unserer Vergangenheit unsere Zukunft!«
Er hielt inne. Blinzelte. »Hmm … mithilfe unserer Vergangenheit … oder … der Vergangenheit?«
Er sah auf seine Unterlagen. Die Hälfte des Vortrags, den er über Wochen vorbereitet hatte, war angestrichen, durchgestrichen, unterstrichen oder komplett umgeschrieben.
»Der Vergangenheit«, entschied er und fügte eine weitere Änderung hinzu.
Dann ließ er den Blick durch den Lesesaal der Bibliothèque nationale de France schweifen.
Mit den runden Bleiglasfenstern in der Kuppeldecke und den geschwungenen Bögen aus filigranem Gitterwerk, die an Rippen riesiger Fabelwesen erinnerten, mit den buchgesäumten Wänden und den geschmiedeten Nachschlagewerken, die auf grazilen goldenen Regalen thronten und stolz ihre Seiten aufplusterten, war dies einer der schönsten Lesesäle, die er je gesehen hatte.
Doch bis auf Enrique war er menschenleer.
In der Mitte des Raumes schwebte eine große leuchtende Kugel und zeigte die Zeit an: halb zwölf.
Die Ilustrados waren zu spät. Viel zu spät. Um zehn hätte die Versammlung beginnen sollen. Hatten sie sich im Datum vertan? Oder waren die Einladungen verloren gegangen? Kaum vorstellbar. Er hatte die Adressen sorgfältig überprüft und sich den Erhalt bestätigen lassen. Aber ihn so mit Nichtachtung zu strafen, das läge ihnen fern … oder? Inzwischen hatte er seinen Wert als Historiker und Kurator doch sicherlich zur Genüge unter Beweis gestellt. Er hatte Artikel für La Solidaridad geschrieben und darin – wie er glaubte – eloquent dargelegt, weshalb die Kolonien ihren Kolonisten ebenbürtig waren. Zudem zählte zu seinen Gönnern nicht nur Hypnos, ein Patriarch des Ordens von Babel, sondern auch Séverin Montagnet-Alarie, der einflussreichste Investor von Paris und Besitzer des elegantesten Hotels in ganz Frankreich.
Enrique ließ seine Notizen sinken und stieg vom Podium hinab. Betrübt lief er zu dem in der Mitte des Raumes aufgebauten Tisch. Er war für die neun Mitglieder des inneren Kreises der Ilustrados gedeckt … zu denen bald ein zehntes gehören würde, wie er hoffte. Der Salabat genannte Ingwertee war abgekühlt und bald müsste er die Warmhalteplatten voll Afritada und Pancit zudecken. Das Eis im Sektkühler war nur mehr eine Pfütze.
Nachdenklich betrachtete Enrique das Arrangement. Dass die Ilustrados nicht erschienen waren, wäre vielleicht weniger schlimm, hätte er noch andere Gäste eingeladen. Er dachte an Hypnos und ihm wurde warm ums Herz. Ihn hatte er einladen wollen, aber beim kleinsten Anzeichen von zu viel Verbindlichkeit zog der gut aussehende Patriarch sich zurück, denn ihm gefiel die Grauzone zwischen Freundschaft und Liebesbeziehung. Das Ende der Tafel zierte ein Blumenstrauß von Laila, die gewiss nicht aufgetaucht wäre. Ein einziges Mal hatte er sie vor zehn Uhr wecken wollen, doch sie hatte ihn angeknurrt und eine Vase nach ihm geworfen, die nur knapp an seinem Kopf vorbeigesegelt war. Als sie schließlich gegen Mittag die Treppe heruntergestolpert kam, hatte sie sich an nichts erinnern können. Daraufhin hatte Enrique beschlossen, der vormittäglichen Laila fortan aus dem Weg zu gehen. Blieb Zofia. Zofia hätte sicher gern teilgenommen und kerzengerade auf ihrem Stuhl gesessen, mit einem wissbegierigen Funkeln in den flammenblauen Augen. Derzeit befand sie sich jedoch auf der Rückreise von einem Familienbesuch in ihrer polnischen Heimatstadt.
In einem Anflug von Verzweiflung hatte er sogar erwogen, Séverin einzuladen, was ihm dann allerdings etwas zu unaufrichtig erschienen war. Zum einen hatte er diesen Vortrag unter anderem deshalb organisiert, weil er nicht für immer Séverins Historiker bleiben konnte. Zum anderen war Séverin … nicht mehr derselbe. Zwar machte Enrique ihm das nicht zum Vorwurf, doch auch ihm reichte es irgendwann, wenn man ihm stets die Tür vor der Nase zuschlug. Sich selbst redete er ein, es ginge nicht darum, Séverin zu verlassen, sondern darum, wieder am Leben teilhaben zu können.
»Ich habe es versucht«, murmelte er zum hundertsten Mal, »ich habe es wirklich versucht.«
Wie oft er das wohl wiederholen musste, bis die Schuldgefühle endlich nachließen? Trotz ausgiebiger Recherchen hatten sie keine Spur zum Schlafenden Palast gefunden, zu dem Ort, an welchem die Schätze des Gefallenen Hauses aufbewahrt wurden, darunter das Artefakt, das Séverin mehr als alles andere zu finden trachtete: Die Göttliche Lyrik. Dieses Werk in die Finger zu bekommen, würde dem Gefallenen Haus den Todesstoß versetzen. Denn dann würde dessen Plan, die Babelfragmente zusammenzufügen, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Sie mussten dieses Buch an sich bringen. Vielleicht hätte Séverin dann das Gefühl, Tristan gebührend gerächt zu haben.
Aber es sollte wohl einfach nicht sein.
Als der Orden beschlossen hatte, sich der Sache selbst anzunehmen, hatte Enrique Erleichterung verspürt. Tristans Tod ging ihm noch immer nah. Nie würde er seinen ersten Atemzug vergessen, sobald das Ableben seines Freundes zur schrecklichen Gewissheit geworden war. Angestrengt und stockend, als hätte er mit der Welt darum ringen müssen. Zu leben war ein Privileg. Und das gedachte er nicht mit dem Durst nach Rache zu vergeuden. Er wollte weitaus Bedeutsameres erreichen.
Nach dem tragischen Vorfall war Laila aus dem L’Éden ausgezogen. Séverin war so kalt und unzugänglich geworden wie ein Stein. Einzig Zofia war mehr oder weniger dieselbe, doch jetzt war sie nach Głowno gereist … geblieben war ihm Hypnos. Hypnos, der Enriques Vergangenheit gut genug verstand, um – vielleicht – Teil seiner Zukunft sein zu wollen.
»Hallo?«, meldete sich plötzlich eine Stimme.
Enrique fuhr herum, zupfte sein Sakko zurecht und setzte ein breites Lächeln auf. Womöglich waren seine Bedenken umsonst gewesen und sie waren tatsächlich alle spät dran … doch als die Gestalt näher kam, sackte er in sich zusammen. Das war kein Mitglied der Ilustrados. Nur ein