finanzieren kannst. Ist das nicht länger dein Wunsch?«
»D…doch, aber …«
»Warum solltest du dann kündigen?«
Zofia fehlten die Worte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr Kündigungsgesuch nicht sofort annehmen würde. Immerhin hatte sie momentan nicht einmal eine richtige Aufgabe im L’Éden. Séverin hatte alle Akquisitionsmissionen auf Eis gelegt, nachdem sich die Suche nach dem Schlafenden Palast als fruchtlos erwiesen hatte. Es gab keine Arbeit für Zofia.
»Meine Schwester liegt im Sterben.«
Séverin verzog keine Miene.
»Und deshalb bist du nach Głowno gereist?«
Sie nickte.
»Warum hast du mich belogen?«
Zofia zögerte. Sie dachte an Tristans letztes Lachen und an Helas fiebrig gemurmelte Erinnerungen, an Chanukka gemeinsam mit der Familie, alle um den Tisch versammelt, während die Mutter mit der Schöpfkelle Eintopf verteilte und es nach Kerzenwachs vom Chanukkaleuchter roch.
»Weil ich es selbst nicht wahrhaben wollte.«
Es gab noch einen weiteren Grund. In Głowno hatte Zofia gerade einen Brief an Laila und Enrique begonnen, da hatte Hela sie zurückgehalten. »Beunruhige sie nicht zu sehr. Nachher machen sie sich nur Sorgen, wer sich um dich kümmern muss, wenn ich nicht mehr da bin.« Was, wenn ihre Schwester recht hatte? Aus Scham, womöglich eine Bürde für die anderen zu sein, hatte sie nicht weitergeschrieben.
In Séverins Gesicht zuckte ein Muskel. Noch immer nahm er das Schreiben nicht entgegen. Zofia dachte daran, wie oft sie ihn Tristans Taschenmesser hatte drehen und wenden sehen, wie oft er vor Tristans Tür verweilte, ohne sie je zu öffnen, oder aus dem Fenster blickte, auf das, was einmal der Garten der Sieben Sünden gewesen war. Und da kam es ihr in den Sinn. »Du verstehst mich.«
Séverin wandte sich abrupt ab. »Deine Schwester wird nicht sterben. Womöglich braucht sie dich trotzdem, aber ich brauche dich dringender. Es gibt einiges zu tun.«
Zofia runzelte die Stirn. Im ersten Moment fragte sie sich, wie Séverin sich Helas Genesung so sicher sein konnte, im nächsten überkam sie eine Woge der Freude. Ohne ihre Arbeit hatte sie sich rastlos gefühlt. Außerdem war sie nicht dafür geschaffen, Helas Stelle im Haus ihres Onkels zu übernehmen, wo ihr gesamter Lohn von den verbleibenden Schulden aufgezehrt würde.
»Ich habe heute Morgen deine Konten überprüft«, fuhr Séverin fort. »Du hast keinerlei Ersparnisse mehr, Zofia.«
Zofia öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Vor Ärger stieg ihr Hitze in die Wangen.
»Du … Dazu hattest du kein Recht. Das ist privat.«
»Nicht für mich. Begleite mich auf diese Mission und ich verdoppele dein Einkommen. Deine Schwester muss nicht weiter als Gouvernante arbeiten, du könntest in den nächsten Jahren bequem für euch beide sorgen. Ich werde sofort veranlassen, dass man ihr Anteile deines Gehalts schickt. Aber nur unter der Bedingung, dass du nicht nach Polen zurückkehrst. Die zusätzliche Summe bekommst du ausgezahlt, sobald der Auftrag erledigt ist.«
»Und ich … darf ich in der Zwischenzeit nichts von meinem Lohn behalten?«
Das gefiel ihr nicht. Sie musste sich ohnehin schon so sehr auf andere verlassen.
»Ich kümmere mich natürlich um deine Lebenshaltungskosten und um die Ausgaben für das Labor.«
»Was ist mit Goliath?«
Séverin wirbelte herum, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Was soll mit ihm sein?«
Zofia reckte das Kinn. Seit Tristans Tod hielt sie die giftige Vogelspinne sicher und geborgen in ihrem Labor. Nur für die Zeit ihrer Reise hatte sie Enrique darum gebeten, auf das Tier aufzupassen. »Eher lasse ich mich bei lebendigem Leibe verbrennen!«, war seine erste Reaktion gewesen. Dies hatte sich jedoch als Übertreibung herausgestellt, denn nach einer kleinen Bedenkzeit hatte er, wenn auch widerwillig, zugestimmt. Sie stellte sich gern vor, wie sehr Tristan sich darüber gefreut hätte.
»Er braucht auch Geld für Kost und Logis.«
Séverin wandte den Blick ab. »Ich kümmere mich darum. Werden wir uns einig?«
Zofia forschte in seinem Gesicht nach bekannten Mustern und Strukturen. Sie war einst in der Lage gewesen, ihn zu entschlüsseln, vielleicht aber auch nur, weil er es zugelassen hatte. Jetzt war er ein Fremder. Ob das eine der Folgen des Todes nahestehender Personen war? Andererseits hatten Hela und sie den Tod ihrer Eltern erlebt, hatten mit angesehen, wie ihr Zuhause und all ihre Besitztümer in Flammen aufgegangen waren. Trotzdem waren sie sich nicht fremd geworden. Zofia schloss die Augen. Hela und sie. Sie hatten einander. Séverin – selbst wenn er mit Blicken Befehle erteilen konnte – hatte niemanden. Ihr Ärger verrauchte.
Als sie die Augen öffnete, dachte sie an Helas mattes Lächeln. Ihretwegen würde ihre Schwester überleben. Zum ersten Mal verspürte Zofia einen Anflug von Stolz. Stets hatte sie sich auf Hela und so viele andere verlassen müssen. Nun würde sie ihre Schuld begleichen. Vielleicht war sie eines Tages auf niemanden mehr angewiesen.
»Ich werde persönlich veranlassen, dass man mir jede Woche mindestens einen Brief von deiner Schwester übermittelt. Auf meine Kosten«, fügte Séverin hinzu.
Zofia dachte an den Handkuss ihrer Schwester. Fahr ruhig, Zosia.
»Einverstanden.«
Séverin nickte und warf einen Blick auf die Uhr. »Dann geh am besten schon mal in die Sternwarte. Die anderen müssten jeden Augenblick hier sein.«
Séverin
Séverin wusste, dass man sich aller Merkmale, die einen Menschen ausmachten, entledigen musste, wenn man ein Gott werden wollte. Im Gespräch mit Zofia hatte er auch den letzten Funken Wärme in seinem Inneren erstickt und sich direkt etwas weniger menschlich gefühlt. Natürlich könnte er ihr das Geld für die erneute Rückreise in ihre Heimat geben. Tat er aber nicht.
Vor ein paar Tagen war ihm durch den Kopf geschossen, dass sie keinen Grund mehr hätte, nach Polen zurückzukehren, wenn ihre Schwester nicht wäre. Doch so kaltblütig war selbst er nicht. Stattdessen hatte er einen Arzt zum Haus ihres Onkels geschickt. Er versuchte sich davon zu überzeugen, dass das auch viel klüger war. Berechnender. Dass es nichts bedeutete. Und noch während er an dieser Sicht festhielt, musste er an ihre erste Begegnung denken.
Etwa zwei Jahre zuvor waren ihm Gerüchte über eine brillante jüdische Studentin zu Ohren gekommen, die man wegen Brandstiftung und Missbrauchs ihrer Schmiedekunstgabe der Universität verwiesen und ins Gefängnis gesperrt hatte. An dieser Geschichte schien ihm jedoch irgendetwas faul und so hatte er sich von seinem Kutscher zum Frauengefängnis bringen lassen. Zofia war scheu wie ein Fohlen, ihre auffallend blauen Augen wirkten eher animalisch als mädchenhaft. Da er es nicht über sich brachte, sie ihrem Schicksal zu überlassen, nahm er sie mit ins L’Éden. Wenige Tage später berichtete ihm das Personal, sie schlafe nachts immer mit einem Bündel Laken auf dem Boden statt in dem Bett mit der Decke aus Schwanendaunen. Als er das hörte, wurde ihm warm ums Herz.
Dasselbe hatte er bei all seinen Ersatzvätern getan. Er und Tristan waren nie lange bei einem von ihnen geblieben, daher war es gefährlich, sich zu sehr an etwas zu gewöhnen. Auch wenn es nur ein Bett war. Séverin hatte daraufhin alles aus Zofias Zimmer entfernen lassen und ihr einen Prospekt in die Hand gedrückt. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich aussuchen, was sie davon gern haben wolle. Jedes Stück werde von ihrem Gehalt abgezogen, gehöre jedoch dann ganz allein ihr.
»Ich verstehe dich«, hatte er ihr zugeraunt.
Da hatte Zofia ihm zum ersten Mal ein Lächeln geschenkt.
ALS ER SICH der Sternwarte näherte, hörte er Klavierspiel. Es war ein beflügelnder Klang, voll der Hoffnung. Wie angewurzelt blieb er stehen. Die