mal im Ernst, das konnte man so oder so nicht ruhigen Gewissens verkaufen. Wer wollte schon freiwillig ein verhextes Buch?
Ich atmete heftig aus und drehte mich zu Leona, die sich immer noch bei den Diätbüchern versteckte, als auf einmal direkt hinter meinem Rücken ein ohrenbetäubender Krach ertönte. Wie der Schuss eines Gewehres.
Ohne einen Blick über meine Schulter zu werfen, hetzte ich davon, packte Leona an der Hand und riss sie mit mir in den hintersten Winkel der Buchhandlung.
Leonas Nägel krallten sich fest in meinen Oberarm. Aneinandergepresst und mit angehaltener Luft lauschten wir nach den Geräuschen, die aus dem Kassenbereich kamen. Jemand schlich über die knarrenden, alten Holzdielen.
»O Gott«, flüsterte Leona dicht an meinem Ohr. »Was sollen wir jetzt denn nur tun? Vielleicht ist das ein Geist. Oder noch schlimmer, der Monokel-Opa. Was, wenn du recht hattest und der echt ein totaler Psycho ist? Wie Jack the Ripper. O Gott, Emma! Was, wenn er die anderen längst abgemurkst hat?«
»Schsch«, zischte ich. »Wie hätte er das denn anstellen sollen? Dann wäre hier doch alles voller Blut.«
Okay. Das waren wohl nicht grad die richtigen Worte gewesen, um Leona zu trösten. Ihre Augen erreichten schlagartig die Größe von Golfbällen und sie schluckte einmal schwer.
Plötzlich erklang ein röchelndes Husten. Wer oder was auch immer dort drüben war, er, sie (oder es?) schien sich nicht gerade einer blendenden Gesundheit zu erfreuen. Genau genommen schien es jetzt sogar, als würde die Person gleich ersticken. Was mich gar nicht so sehr gestört hätte, dann wären wir den Eindringling unmittelbar los gewesen. Doch nach einigen Minuten beruhigte sich der Hustenanfall und kurz darauf sagte eine männliche Stimme (viel zu jung für den Monokel-Opa): »Welch schauderöses Gefühl. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Nun, wo ist sie?« Kurzes Schweigen. »Verzeiht, weshalb versteckt Ihr Euch? Wo seid Ihr?«
Ich erstarrte zur Salzsäule und drehte langsam den Kopf zu Leona, die sich mittlerweile die Hand vor den Mund presste, um die eigenen Atemgeräusche zu dämpfen.
Wieder knarrten die Dielen und dumpfe Schritte waren zu hören. Der Einbrecher kam näher. Ich überlegte, ob wir es irgendwie schaffen konnten, ganz hinter das Bücherregal zu kriechen. Aber da war kein Platz zwischen Holz und Wand. Mein Blick blieb bei dem großen Pappaufsteller hängen, der die Lesung von Zwanzig Minuten vor Mitternacht beworben hatte. Er sah genauso aus, wie die Fan-Lesezeichen, die Pa heute Nachmittag sortiert hatte. Lila, glitzernd, scheußlich und mit den schattenhaften Umrissen eines Jungen, der sich gerade in einen magischen Zeitenwirbel stürzte. Die gesamten vergangenen Wochen hatte ich mich über dieses kitschige Werbeteil lustig gemacht. Jetzt war es unsere Rettung.
Wortlos bedeutete ich Leona, mir geräuschlos zu folgen. Auf allen vieren rutschten wir über den Boden davon. Wir hatten nur diese eine Chance, unbemerkt zum Pappaufsteller zu gelangen.
Als auch Leona mit ihrer Schuhspitze dahinter verschwand, betrat jemand den Raum. Mein Herz raste wie verrückt. Ich konnte es bis in meinen Hals fühlen.
»Wo steckt Ihr?«, hörte ich die fremde Stimme fragen, da fasste ich einen Entschluss. Ich musste handeln, ehe es zu spät war. Eiligst fasste ich das erstbeste Buch aus dem nächstgelegenen Regal und sprang auf. Leona raunte zwar noch: »Was machst du da, lass den Scheiß!«, aber es war schon zu spät. Das Pappdisplay kippte mit einem dumpfen Geräusch um. Im selben Moment zuckte eine hochgewachsene Jungsgestalt zurück. Ich hob das Buch an und donnerte es beherzt an den Kopf des Eindringlings.
Ha, der würde bestimmt nie wieder auf die Idee kommen, bei Bücher Grünwald einzubrechen!
»Beim Schnauzbarte Queen Victorias, was tu– «, jaulte er auf. Und im nächsten Moment war er auch schon bewusstlos zusammengeklappt.
Fünf |
Das Licht der Handylampe ging wieder. Es leuchtete einen Jungen mit schwarzen Strubbelhaaren und einer kleinen, blutigen Beule auf der Stirn an. Bestimmt war er nur ein bisschen älter als Leo und ich. Sein Aufzug sah jedoch ordentlich schräg aus. Ein Frack über einem roten Hemd und dazu eine dunkle Stoffhose und kniehohe Reiterstiefel. Kein normaler Junge lief heutzutage freiwillig in diesem Outfit durch die Gegend.
»Du hast ihn erschlagen«, flüsterte Leona geschockt.
»Unsinn.« Ich ging in die Hocke, um ihn etwas näher zu betrachten, und befühlte seinen Hals. »Er hat noch Puls.«
Jetzt kniete auch Leona sich neben ihn. »Bist du sicher?«
»Ja, außerdem ist man nicht so schnell tot.«
»Aber schau mal, sein Gesicht glitzert.«
»Hm.« Das war wirklich seltsam. Ich legte den Kopf zur Seite und ließ zaghaft meinen Zeigefinger an seine Wange wandern, bis ich mit der Fingerkuppe dagegenstieß. Gerade als ich meine Hand wieder wegzog und den Glitzerstaub musterte, der nun an meiner Fingerkuppe klebte, riss der Junge schlagartig seine Augen auf. Ein knalliges Dunkelblau. Fast unecht, wie eingefärbte Kontaktlinsen. Jetzt erst merkte ich, dass seine Lider von dunklen Rändern umrahmt wurden, als hätte er sich großzügig Kajal drum herumgeschmiert.
Leona und ich machten synchron einen Satz nach hinten. Doch der Fremde wirkte nicht weniger erschrocken. Entgeistert starrte er uns an, richtete blitzschnell den Oberkörper auf und rutschte auf dem Hosenboden ein Stück davon, bevor er panisch auf die Füße sprang. Kurz wankte er, schaffte es aber gerade noch, sich an einem der Regale abzustützen, und tastete dann heftig atmend nach der Wunde an seiner Stirn. »W… was soll dieser Unfug? Ihr schlagt mich, um mich im Anschluss … unflätig … zu … zu betatschen? Seid Ihr noch bei Trost?«
Unflätig? Betatschen? Welche Schraube war denn bei dem locker? So sprach heutzutage doch kein Mensch unter neunzig. Außerdem war er wohl derjenige, der einfach hier eingebrochen und somit erst mal mit einer ordentlichen Rechtfertigung an der Reihe war. »Was suchst du in meiner Buchhandlung?«, fuhr ich ihn an.
»Eure Buchhandlung?« Der Junge musterte mich. Neugier blitzte in seinen Augen auf.
»Was meinst du mit eure? Meine.« Ich holte tief Luft und versuchte, möglichst ruhig zu klingen. Wenn der merkte, dass er mir Angst machte, kam er sich bestimmt gleich cool vor. »Eigentlich gehört der Laden natürlich meinem Dad … ist doch egal jetzt … ich wohne hier jedenfalls.«
»Ach, zwischen den ganzen Büchern? Charmant. Dann wohne ich jetzt auch hier, sehr schön. Das übertrifft meine Erwartungen ganz trefflich. Und wenn ich mir Euch kleinen Backfisch so ansehe … Ihr macht einen adäquaten Eindruck. Es hätte wahrlich schlimmer kommen können. Stellt Euch vor, ich wäre in den Fängen einer zwölfjährigen Satansanbeterin gelandet. Das einundzwanzigste Jahrhundert ist, was das betrifft, nicht unbedingt vertrauenerweckend.«
Backfisch? Der hatte echt ein Rad ab. Entsetzt schüttelte ich den Kopf. »Bist du irgendwo ausgebrochen? Vielleicht aus einem Irrenhaus?«
Der Junge rümpfte die Nase und rubbelte sich gleichzeitig an seiner Verletzung herum. »Ich bitte Euch, selbstverständlich nicht. Ganz im Gegenteil. Der Textsprung wurde vollbracht. Ein wahrhaft vortreffliches Glück. Alle Faktoren zugleich.«
»Was quasselst du da?« Ratlos wechselte ich einen Blick mit Leona, doch die schien leider das Sprechen verlernt zu haben. Super. Das nannte ich mal freundschaftlichen Beistand.
Und als wäre er nicht sowieso schon eigenartig genug, machte der Spinner jetzt auch noch einen großen Schritt auf mich zu und presste die Augenlider fest zusammen. »Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ihr gelesen habt?« Er fuhr sich mit der Handfläche über die Wange, betrachtete sie und verzog die Lippen zu einer gequälten Schnute. »Uff. Weshalb bloß müssen diese Verlage immerzu diesen Glitzer auf unser Cover geben? Auf das Antlitz einer Fee könnte ich durchaus verzichten.«
»Wieso sollen wir gelesen haben?« Ich verstand kein