Christoph Bausenwein

Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel


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und erkannte in ihm sofort »eine absolute Führungspersönlichkeit, auf und neben dem Platz«. Und bald wurde ihm klar, dass der Zweitligaspieler aus Deutschland nicht nur ein »Leader« war, der für das Kapitänsamt perfekt taugte, sondern dass er auch ein ausgeprägtes Verständnis für die Feinheiten des Mannschaftsspiels mitbrachte.

      Für den Lehrling Joachim Löw tat sich eine neue Welt auf. Bis dahin hatte ihm im geradezu hinterwäldlerischen Deutschland, in dem die übliche Traineransprache von Begriffen wie Manndeckung und Grätsche oder Rennen und Kämpfen dominiert war, noch keiner zeigen können, wie man das Spiel strategisch und taktisch durchdringt. Die typisch deutsche Trainermethode ging laut Löw etwa so: Der »Übungsleiter« nimmt eine Handvoll Kieselsteine vom Boden auf und wirft dann ein Steinchen nach dem anderen weg. Bis 50 Runden gelaufen sind. Eine typische Anweisung vor dem Spiel hatte die Form: »Jogi, du spielst heute im Sturm und guckst, dass du ein Tor machst.« Aufklärung über Systeme und Taktik? Fehlanzeige. Und wenn der Jogi dann kein Tor gemacht hatte, fiel manchem Trainer nur die Aufforderung ein, nun eben noch mehr zu kämpfen und sich den Arsch aufzureißen. Für den Empfänger der Botschaft war das aber unbefriedigend. »Oft hatte ich das Gefühl, durchaus schon alles aus mir herausgeholt zu haben«, berichtet Löw über seine Ratlosigkeit als Spieler, »also musste es doch ein anderes Problem geben.«

      Als Profi hatte Joachim Löw zum Teil unter durchaus namhaften Trainern gekickt, etwa Jürgen Sundermann, Lothar Buchmann, Werner Olk oder Jörg Berger. Immer hatte er sehr genau hingehört auf die Anweisungen und nachgefragt, wenn er etwas nicht genau nachvollziehen konnte. Richtig überzeugend aber fand er nur Jörg Berger. Und natürlich Rolf Fringer. »Fringer war ein Trainer, der mir Antworten auf meine Fragen geben konnte«, lobt Löw seinen Lehrmeister. Und der lobt zurück, dass er den Joachim nicht nur als einen Menschen mit untadeligem Charakter erlebt habe, immer offen, ehrlich und aufrichtig, sondern auch als Spieler »mit sehr viel Verstand«. Für seine spätere Trainerkarriere hätten ihm die Erfahrungen in der Schweiz sicher sehr geholfen. Da habe er seinen taktischen Horizont erweitern und lernen können, dass es auch andere Wege gibt als Hauruck-Fußball. »Er hat mich sehr oft befragt, wie bestimmte Dinge funktionieren. Das war eben alles Neuland für ihn. Da habe ich gemerkt, dass er sich schon als Spieler sehr viele Gedanken über solche Dinge macht.«

      Joachim Löw, der Trainer in spe, hatte in Fringer einen Lehrmeister, von dem er in taktischen Dingen viel lernen konnte. Etwa, wie die »Zonenverteidigung« (zu Deutsch: Raumdeckung) funktioniert, was Pressing ist und wie man ein geplantes Offensivspiel aufzieht. Sie hätten damals viel miteinander diskutiert, beim Training und danach, so Fringer. Und dabei habe der Jogi die Fähigkeit an den Tag gelegt, immer das Ganze im Auge zu behalten – so eben, wie das ein guter Trainer können muss. »Seine Art und Weise, das Spiel zu analysieren, die Art, seine Vorstellungen klar und deutlich zu vermitteln, und sein offensiv ausgerichtetes System, das hat mich schon geprägt«, bekennt er heute. Damals schätzte der Spieler Löw den Trainer Fringer aber nicht nur als Taktikexperten, der ein mutiges Offensivspiel propagierte, sondern auch als lebenslustigen und fröhlichen Typen, der sein Team stets bei guter Laune halten konnte.

      Die Schweiz entpuppte sich für den Badener Löw als eine ganz neue Fußballwelt. Er erkannte, »dass es nicht genügt, nur auf sich zu schauen, dass man an das Ganze denken muss«. Er erkannte, dass man über den Tellerrand hinausschauen muss. Und er erkannte, dass im Fußball viele Möglichkeiten stecken, die er im Fußball-Entwicklungsland Deutschland noch gar nicht wahrgenommen hatte.

      Als Fringer 1992 zum FC Aarau wechselte, um dort Meister zu werden, ging sein inzwischen bereits mit ersten Trainerscheinen ausgestatteter deutscher Schüler zum FC Winterthur. Löw hatte sich in Schaffhausen sehr wohlgefühlt, wo er regelmäßig im freundschaftlichen Kreis mit Fringer und einigen Mitspielern zum Mittagessen in der Altstadt-Wirtschaft »Kastanienbaum« eingekehrt war. Dennoch war nicht alles eitel Sonnenschein gewesen: Nach drei Jahren hatten sich Fringer und der Kreis seiner Führungsspieler mit dem Präsidenten Aniello Fontana verkracht, weil der sich in sportliche Angelegenheiten hatte einmischen wollen. »Die Episode, wie Fontana vor der Heimreise von einem Auswärtsspiel der Zutritt zum Mannschaftsbus verweigert wurde, ist in der Stadt legendär«, schrieb die »Aargauer Zeitung«.

      Winterthur – oder »Winti«, wie die Einheimischen den Ort im Kanton Zürich nennen – sollte die letzte Station seiner Karriere als Fußballspieler sein; daher war er bestrebt, als Coach der dortigen A-Jugend einen Neuanfang zu proben. Der Trainerjob reizte ihn, und so beschloss er, in der Schweiz alle nötigen Pflichtscheine zu erwerben. Im Ausbildungszentrum des Schweizer Fußballverbandes in Magglingen würde er so gute Lehrmeister finden wie kaum anderswo. Und die höchste Ausbildungsstufe, das Schweizer Nationalliga-Trainerdiplom, war auch in Deutschland anerkannt.

      Der FC Winterthur spielte wie der FC Schaffhausen in der Nationalliga B/Ost. Der nebenberufliche A-Junioren-Trainer Löw glänzte dort im Herbst seiner Karriere als Kapitän, Spielmacher und Torjäger. Sein ehemaliger Mitspieler René Weiler erlebte ihn als »absolute Persönlichkeit«, als Musterprofi mit Rückgrat. Der Kapitän hatte klare Ansichten und scheute sich auch nicht, seine Meinung dem damaligen Trainer Wolfgang Frank unmissverständlich vorzutragen. Das bestätigt auch Giorgio Contini, damals ein hoffnungsvolles Stürmertalent. Sein Kapitän Löw, dessen taktisches Verständnis das seiner Mitspieler weit überstiegen habe, habe die Dinge oft selber in die Hand genommen und keine Auseinandersetzung mit dem Trainer gescheut. Manchmal freilich sei er auch etwas zu weit gegangen, weiß Contini zu berichten. Einmal hatte der Kapitän den Trainer in der Kabine verbal angegriffen. Jogi habe dann aber schnell eingesehen, dass sowas unmöglich war: »Tags darauf ist er vor der Mannschaft gestanden und hat sich entschuldigt. Ich denke, dies war für seine spätere Trainerkarriere eine wichtige Erfahrung.« Löws große Karriere, meint sein ehemaliger Mitspieler, habe ihn von daher eigentlich gar nicht erstaunt. Schon damals sei klar gewesen, »dass er es einmal weit bringen würde«. Dem Stürmer-Kollegen Patrik Ramsauer ist vor allem der coole Vollstrecker in Erinnerung geblieben: »Ich wurde häufig im Strafraum gelegt, und Jogi Löw erzielte per Elfmeter das Tor.« Beeindruckt hat Ramsauer aber auch der schier unstillbare Wissensdurst seines Kapitäns: »Er hat die Fußballzeitschriften wie den ›Kicker‹ richtiggehend auswendig gelernt, er wusste einfach alles.«

      1994 wäre der »Kicker«-Fachmann beinahe von der Winterthurer »Schützenwiese« zum nahegelegenen »Reitplatz« des kleinen FC Töss gewechselt. Dort hatte man mitbekommen, dass der Winterthurer Kapitän ins Trainergeschäft einsteigen wollte. »Obwohl ich das Mittagessen im Restaurant Wiesental in Ohringen berappte und ihm ein Klubheft mitgab, erhielt ich zwei Tage später eine Absage«, erinnert sich der Tössener Präsident Müller. Joachim Löw übernahm stattdessen als Spielertrainer den drittklassigen FC Frauenfeld (er spielte in der den Nationalligen A und B nachgeordneten 1. Liga).

      Der neue Spielertrainer aus Deutschland hatte in der Saison 1994/95 maßgeblichen Anteil daran, dass die im Vorjahr beinahe abgestiegenen Thurgauer hinter dem SC Brühl und dem FC Altstetten in ihrer Liga einen respektablen dritten Rang belegten und damit die Teilnahme an der Aufstiegsrunde in die Nationalliga B nur knapp verpassten. Mit dabei in Frauenfeld waren auch zwei Weggefährten aus der Winterthurer Zeit. Urs Egli assistierte im Training, Stürmer Contini sorgte für die Tore. Nach einer schwierigen Saison mit dem FC Winterthur, wo man ihn aussortiert hatte, stand Continis Karriere damals auf der Kippe. Der erst 20-jährige Stürmer war bereits dabei, seinen Traum von der großen Karriere zu beerdigen. Aber dann wurde er in Frauenfeld unter der Anleitung Löws Torschützenkönig der 1. Liga. Contini schaffte den Sprung in die Nationalliga A zum FC St. Gallen. Dort wurde er im Jahr 2000 Schweizer Meister und kurz darauf auch Nationalspieler. »Eigentlich habe ich es nur dank Löw so weit geschafft«, ist sich Contini sicher. Löw habe die besondere Qualität, einen Spieler starkzureden und ihm Selbstvertrauen einzuimpfen. Besonders beeindruckt habe ihn die Sozialkompetenz des späteren Bundestrainers. »Als Trainer des FC Frauenfeld verstand er es, den Spielern die Freude am Fußball zu vermitteln – egal welche Probleme diese von der Arbeit oder von zu Hause ins Training mitgenommen haben.« Diese Fähigkeit war bemerkenswert für einen derart jungen Trainer, der mit seinem Job gerade erst begonnen hatte.