Ich hab immer gleich reagiert, ohne groß nachzudenken. Tja, und einmal bin ich zu weit gegangen. Ich war damals Anführer einer Gang in den New Territories. Onkel war der Boss – der große Boss –, und es war an ihm zu entscheiden, was mit mir passieren sollte. Er hätte einfach den Befehl geben können, aber stattdessen hat er nach mir geschickt und mit mir geredet. Ich war ihm nie zuvor begegnet. Es stellte sich heraus, dass wir eine ähnliche Kindheit gehabt hatten – es gab da eine Verbindung, wenn auch nur grob. Er hat gesagt, er glaubt, ich könnte ihm nützlich sein, wenn ich es schaffen würde, mich unter Kontrolle zu haben. Ich habe ihm gesagt: ›Ich weiß nicht, wie das geht.‹ Und Onkel hat geantwortet: ›Tu genau das, was ich dir sage. Versuch nicht länger, selbst zu denken. Auf die Art wird das Leben einfacher für dich.‹ Und so war es dann auch.«
Ava spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Die besondere Beziehung zwischen Sonny und Onkel war ihr nicht entgangen, aber sie hatte nie versucht, sie zu analysieren oder zu hinterfragen. Sie stand für sich und war Außenstehenden verschlossen. Ava hätte nie gedacht, dass Sonny derjenige sein würde, der sie zum Thema machte. Außerdem war sie überrascht, wie lange er geredet hatte. Sie hatte ihn nie mehr als zwei oder drei aufeinanderfolgende Sätze sagen hören. »Du sagst, er habe über die alten Zeiten geredet?«
»Ja, und das hat er vorher noch nie gemacht. Klar, wenn er mit Onkel Fong oder ein paar von seinen alten Gefährten zusammen war, dann haben sie schon über die Vergangenheit gesprochen, aber mit mir hat er das nie getan. Und jetzt tut er das.«
Sie verließen die Brücke und näherten sich im Schneckentempo dem Cross-Harbour-Tunnel nach Kowloon.
»Was hat er dir erzählt?«
»Es quält ihn, was mit den Gesellschaften passiert ist. Es gipfelte darin, als er dir bei der Sache mit dem Arschloch in Macao nicht helfen konnte. Er hat mir erzählt, als er Vorsitzender war, glaubte er Struktur in die Organisation gebracht zu haben und dass ein Schwur wieder etwas wert war. Doch sobald er ihnen den Rücken gekehrt hatte, ging alles wieder den Bach runter. Er hat das Gefühl, seine Zeit verschwendet zu haben – dass ein Teil seines Lebens vergeudet war.«
»Er hat immer noch so vieles, auf das er stolz sein kann.«
»Das scheint er nicht hören zu wollen.«
»Nun, ich werde mit ihm sprechen.«
Sonny verfiel wieder in Schweigen, und Ava fragte sich, ob ihm ihr Vorschlag missfiel. Aber dann sagte er: »Ja, ich glaube, das solltest du. Du bist vermutlich der einzige Mensch, dem er wirklich zuhört. Ich und Lourdes – wir sind wie alte Möbelstücke.«
Vor dem Tunnel hatte sich eine Schlange gebildet, und Ava wünschte, sie hätten sich an ihren Plan gehalten, sich auf der Hongkong-Seite zu treffen.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte Sonny, als könnte er ihre Gedanken lesen.
»Diese Wehwehchen und Zipperlein, von denen du gesprochen hast – gibt’s da irgendwas Konkretes?«
»Er scheint öfter Magenprobleme zu haben als sonst, und er isst nicht mehr so viel wie früher. Lourdes sagt, er hätte Gewicht verloren.«
»Mir hat er erzählt, er hätte zu oft billiges Sashimi gegessen.«
»Blödsinn. Er hat seit Monaten nicht japanisch gegessen, es sei denn hinter meinem Rücken. Er hat sonst immer einen gesunden Appetit gehabt, aber in letzter Zeit stochert er im Essen bloß noch herum, und er hat eine Menge Gerichte von seinem Speiseplan gestrichen. Ich glaube, deshalb will er dich in Kowloon treffen. Morgens isst er jetzt immer Congee, und Lourdes sagt, manchmal auch abends.«
Ava fühlte sich ein wenig schuldbewusst, weil sie wegen des Cross-Harbour-Tunnels genervt gewesen war. »Hat er einen Arzt aufgesucht?«
»Das wissen wir nicht.«
»Wäre es möglich, dass er an den Tagen, an denen er ohne dich das Haus verlässt, vielleicht zum Arzt geht?«
Sonny schüttelte den Kopf und seufzte. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht … Mist, warum bin ich nicht darauf gekommen?«
»Wenn er dir keinen Grund zu der Annahme gegeben hat – warum solltest du?«
»Aber du bist gleich darauf gekommen.«
»Ich bin genauso hinterlistig wie er.«
Sonny hieb mit der Hand aufs Lenkrad. »An den Tagen, an denen er mich nicht braucht, wie er sagt, werde ich meinen Hintern draußen vor dem Haus parken. Ich werde ihn beschatten.«
»Gute Idee«, erwiderte Ava, obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, dass Onkel Sonnys Anwesenheit entgehen würde. »Und du könntest noch etwas tun: Sprich mit Lourdes und finde heraus, wer sein Arzt ist. Das würde ich nämlich auch gern wissen.«
»Mach ich«, sagte Sonny, als sie in den Tunnel eintauchten und die letzte Etappe nach Kowloon in Angriff nahmen.
Das Restaurant war in Tsim Sha Tsui, in der Nähe des Star Ferry Piers. Die Straße war mit Bussen und Taxis verstopft, und selbst Sonny konnte keinen Parkplatz finden, weder einen legalen noch einen illegalen. Er ließ sie am Eingang des Restaurants aussteigen und bat sie, ihn auf dem Handy anzurufen, wenn sie fertig waren.
Onkel war bereits da. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit ihm verabredet gewesen war und auf ihn hatte warten müssen. Am Eingang herrschte Gedränge, aber sie erspähte Onkel zwischen all den Menschen hindurch. Er saß in einer Nische mit einer Kanne Tee vor sich. Seine Füße baumelten über dem Boden. Wie Sonny trug er einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd, das bis zum Kragen zugeknöpft war. Sein Haar war noch immer überwiegend schwarz, wies aber mehr graue Strähnen auf, als sie in Erinnerung hatte. Sein Gesicht war beinahe faltenlos. Er war klein, nicht größer als sie, und er sah aus, als sei er ein wenig geschrumpft und habe, wie Sonny gesagt hatte, Gewicht verloren. Ava nahm ihn genau in Augenschein. Seine dunkelbraunen Augen schienen so lebhaft wie stets, und falls er sich Sorgen machte, ließ sein Blick das nicht erkennen.
Sie zwängte sich durch das Gedränge und ging auf ihn zu.
Er bemerkte sie, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Er stand auf und streckte die Arme nach ihr aus. »So schön wie eh und je, mein Mädchen, so schön wie immer.«
Sie küsste ihn auf die Stirn. »Ich freue mich so, dich zu sehen!«
»Du hast nichts dagegen, hier zu essen?«
»Natürlich nicht. Du weißt, ich liebe Congee.«
»Ehrlich gesagt war mir nicht danach, mit dem Auto nach Hongkong zu fahren oder mich in der Rushhour in die Star Ferry zu zwängen.«
»Ich bin sicher, dass dir der Spaziergang gutgetan hat.«
Die Kellnerin wartete schon, um fix die Bestellung aufzunehmen, fix das Essen zu bringen, fix den Tisch erneut zu verkaufen, denn nichts brachte die Zeit zurück.
»Weißt du schon, was du möchtest?«, fragte Onkel Ava.
»Congee mit gehackten Frühlingszwiebeln.«
»Ich nehme das Gleiche, mit gesalzenen Eiern und eingelegtem Gemüse als Beilage«, sagte er zu der Kellnerin.
»Oh, ich möchte außerdem you tiao«, sagte Ava.
»Natürlich«, stimmte Onkel zu.
In wenigen Minuten wurde ihre Bestellung serviert. Congee und jook waren das Gleiche – ein einfacher Reisbrei. Ava fügte Sojasauce und weißen Pfeffer hinzu und tunkte eine you tiao, ein frittierte Hefestange, hinein. Onkel schlürfte seinen Reisbrei, wie er war, nahm aber zwischendurch einen Bissen von den Eiern und dem Gemüse. »Ich komme morgens oft hierher«, sagte er. »Lourdes wäre entsetzt, wenn sie das wüsste. Sie glaubt, sie mache den besten jook in Kowloon, und ich habe nicht das Herz, ihren Glauben zu zerstören.«
»Ich werde kein Wort darüber verlieren.«
»Während ich hier gesessen und auf dich gewartet habe, musste ich an das letzte Mal denken, als wir hier waren.«
»Mir