hatten. Zuerst einmal möchte ich Ihnen sagen, dass ich Sie auf der beruflichen Ebene in Ihrer Eigenschaft als Steuerberater anspreche. Ich möchte Sie gern zu einem Gespräch treffen – nur Sie und ich –, um freundlich und zivilisiert über Lam Van Dinh und seinen Fonds zu sprechen. Denken Sie, das wäre möglich?«
»Ich weiß nichts darüber«, erwiderte er.
»Worüber wissen Sie nichts?«
»Über den Emerald Lion Fonds. Das habe ich Bobby auch gesagt.«
»Bobby ist Theresas Bruder?«
»Ja. Ich habe ihm gesagt, dass ich nichts Konkretes über den Fonds weiß.«
»Aber Sie kennen Lam Van Dinh?«
»Natürlich. Wir sind zusammen zur Schule gegangen und waren Freunde.«
»Dann möchte ich Sie unbedingt treffen und mit Ihnen reden.«
»Das verstehe ich nicht.«
Ava überlegte, wie viel sie ihm erzählen sollte. »Haben Sie von ihm gehört, seit er Kanada verlassen hat?«
»Nein. Ich weiß nicht einmal mit Gewissheit, dass er weg ist, obwohl ich nichts mehr von ihm gehört habe, und ich weiß, dass alle sagen, er habe sich aus dem Staub gemacht.«
»Nun, er hat mit ziemlicher Sicherheit das Land verlassen, und wir glauben auch zu wissen, wo er sich aufhält. Ich habe die Absicht, ihn aufzusuchen, um herauszufinden, was mit dem Geld geschehen ist.«
»Viel Glück«, sagte Lac spitz.
»Warum sagen Sie das so?«
»Ich glaube nicht, dass Sie auch nur einen Cent finden werden.«
»Und warum nicht?«
Er schwieg, und Ava wusste, dass sie sich mit ihm treffen musste. »Hören Sie, warum lade ich Sie nicht zum Mittagessen ein, statt dieses unangenehme Telefonat fortzuführen. Ich muss ohnehin nach Richmond Hill. Wissen Sie, wo das Restaurant Lucky Season ist?«
»Times Square?«
»Ja, genau. Ich treffe Sie dort um ein Uhr. Ich werde eine blaue Adidas-Jacke tragen.«
Als er nicht antwortete, sagte sie: »Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich auch zu Ihnen ins Büro kommen … Mr. Lac, ich werde allein da sein. Es gibt absolut keinen Grund, nicht mit mir zu sprechen. Ich möchte nur verstehen, was für eine Art Mensch Lam ist – oder war –, und ich glaube, dabei können Sie mir helfen. Ich habe keinen anderen Beweggrund.«
»Ich kann nicht vor halb zwei«, sagte er zögerlich.
»Dann treffen wir uns um halb zwei. Danke, Mr. Lac, ich weiß das wirklich zu schätzen.«
Ava fuhr ihren Laptop hoch. Sie fand eine lange E-Mail von May Ling vor. Ava überlegte, ob sie ihr erzählen sollte, dass sie nach Asien flog, entschied sich dann aber dagegen. May konnte emotional anstrengend sein, und wo Ava jetzt wieder einen Auftrag übernommen hatte, musste sie sich konzentrieren. Das Gleiche galt für Amanda, wobei da noch etwas hinzukam: Ava wusste, Amanda würde über Michael sprechen wollen, und Ava war nicht bereit, sich in die verzwickte Lage der ersten Familie ihres Vaters verwickeln zu lassen.
Sie schob ihren Laptop beiseite und ging ihre Notizen vom Vorabend durch. Bank Linno stand ganz oben auf ihrer Liste, gleich hinter Joey Lac. Ava kannte mehrere indonesische Banken, aber Linno gehörte nicht dazu. Das war nicht weiter ungewöhnlich, denn es gab mehr als hundert Geschäftsbanken im ganzen Land. Sie loggte sich auf der Linno-Website ein und war prompt überrascht von der spärlichen Aussagekraft. Als sie sich die zugänglichen Informationen näher ansah, wurde die Sache noch seltsamer. Die Bank hatte ihren Hauptsitz in Surabaya auf der Insel Java. Surabaya hatte über drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner und war eine bedeutende Stadt, aber es war nicht Jakarta. In Jakarta, der Hauptstadt, hatte die Bank keine Zweigniederlassung, ja nicht einmal eine Zweigstelle. Ihre Aktivitäten beschränkten sich auf die Provinz Ost-Java. Der Liste der Zweigniederlassungen zufolge schien sie nur in Surabaya, Batu, Maland und Madiun tätig zu sein.
Wieso hat eine kleine indonesische Bank ein Büro in Toronto?, fragte Ava sich, als sie auf den Button INTERNATIONAL auf der Website klickte. Und wieso hat eben diese Bank Büros in New York, Rom, Caracas und Porlamar?
Sie öffnete das Branchenverzeichnis von Toronto und fand nichts außer einer 800-er Telefonnummer – keine Adresse, keine Ansprechpersonen, keine Servicenummern. Ohne groß zu überlegen, wählte Ava die angegebene Nummer. Es klingelte zwei Mal, dann schaltete sich die Voicemail ein. Ava legte auf. Äußerst merkwürdig, dachte sie.
Kanada hatte fünf große lizensierte Handelsbanken und eine sehr viel längere Liste von kleineren Geldinstituten und Genossenschaftsbanken. Das komplette Bankenwesen war streng reguliert und vielleicht das sicherste der Welt. Linno konnte durchaus ohne Lizenz operieren; es konnte eine »Near Bank« sein, ein banknahes Institut, das Finanzdienstleistungen, aber keine Bankgeschäfte im engeren Sinne anbot. Ava kannte etliche, die nicht direkt mit den Kunden arbeiteten, sondern mittels Finanzberatern, aber selbst die gaben zumindest ihre Servicenummern an.
Sie öffnete die Seiten der anderen internationalen Zweigniederlassungen – die Informationen dort waren ebenso spärlich. Dann kehrte sie zur Hauptniederlassung in Surabaya zurück. Die Informationen über die Aktivitäten der Bank in Indonesien waren weit detaillierter – sie schien das ganze Spektrum an Dienstleistungen für Privat- und Firmenkunden anzubieten. Ava übertrug die Namen der Zweigniederlassungen, die Anschriften, Telefonnummern und die E-Mail-Adressen in ihr Notizbuch. Es war Mittag in Toronto, Mitternacht in Surabaya. Da es keinen Sinn hatte anzurufen, schickte Ava eine E-Mail, in der sie um den Namen einer Ansprechperson und die Adresse des Büros in Toronto bat.
Als das erledigt war, packte sie den Laptop und ihr Notizbuch in die große Chanel-Tasche, die sie als Aktentasche nutzte, und rief unten an, um sich ihren Wagen aus der Garage holen zu lassen. Sie schaute sich in ihrem Apartment um. Sie war nur zwei Tage hiergewesen, aber es kam ihr sehr viel länger vor.
9
DIE FAHRT DEN DON VALLEY PARKWAY hinauf verlief so zäh wie immer, und der Verkehr ließ auch nicht nach, als sie auf den Highway 7 abbog und Chinatown North erreichte. Mittlerweile lebten ungefähr fünfhunderttausend Menschen chinesischer Herkunft im Großraum Toronto. Die erste große Welle war aus Hongkong gekommen, kurz vor der Eingliederung der ehemals britischen Kolonie, gefolgt von einem Zustrom aus dem Mutterland. In Toronto gab es chinesische Tageszeitungen, chinesische Radio- und Fernsehstationen, gigantische Einkaufszentren, die denen in Hongkong nachempfunden waren, sowie Restaurants – Hunderte von Restaurants –, die jede erdenkliche asiatische Küche anboten, kreiert von Chefköchen aus Spitzenrestaurants in Hongkong, Shanghai und Beijing, die Spitzengehälter für ihre Übersiedlung bekamen. Jennie Lee behauptete, dass die chinesischen Restaurants in Toronto inzwischen die besten der Welt waren, und Ava konnte ihr nicht widersprechen.
Als sie damals in Toronto angekommen waren, hatte sich die einzige Chinatown in der Innenstadt befunden. Jeden Samstagmorgen hatte Jennie Ava und Marian ins Auto geladen und sie zum Abakus- und Mandarin-Unterricht gebracht, während sie chinesisches Gemüse einkaufen ging und ihren geliebten thailändischen Jasminreis im Zehn-Kilo-Sack. Diese alte Chinatown war dicht bevölkert, und deshalb hatte Jennie sich mit ihren Töchtern in Richmond Hill, im Norden von Toronto, niedergelassen, wo sich im Laufe der Zeit eine wohlhabende, gebildete chinesische Community entwickelte.
Mimi hatte Ava einmal gefragt, warum so viele Chinesinnen und Chinesen nach Richmond Hill zogen. Die Antwort war einfach. Viele Jahre lang war Vancouver der bevorzugte Ankunftsort für chinesische Einwanderinnen und Einwanderer gewesen, und in Richmond, einer Stadt im Süden von Vancouver, hatten sie sich niedergelassen. Als Toronto Vancouver allmählich als wirtschaftliches Zentrum der chinesischen Community in Kanada ablöste, zogen viele im Westen angesiedelte Chinesinnen und Chinesen nach Osten. Und weil sie – wie alle Landsleute in Hongkong – den Namen Richmond kannten, landeten sie in Richmond Hill. Als Jennie mit ihren Töchtern nach Osten ging, um dem