Ian Hamilton

Der schottische Bankier von Surabaya


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und wählte das Paar aus grüner Jade, das sie in Beijing gekauft hatte. Schließlich bürstete sie ihr schulterlanges Haar, es war samtschwarz und fein wie Seide, und steckte es mit einer Elfenbeinhaarspange hoch. Ava besaß eine große Kollektion an Haarnadeln, Kämmen und Spangen, aber die Elfenbeinhaarspange war ihr Glücksbringer. Ohne sie würde Ava keinem Auftrag nachgehen.

      Sie rief unten an, um ihren Wagen holen zu lassen. Bei gewöhnlichem Verkehr waren es nicht mehr als dreißig Minuten bis Mississauga, aber es war halb sechs, und sie wusste, dass der Gardiner Expressway verstopft sein würde.

      Sie brauchte dreißig Minuten, um die University Avenue Richtung Süden bis zum Gardiner Expressway entlangzukriechen, und dann folgten weitere fünfundvierzig Minuten Stop-and-Go, als sie auf dem Queen Elizabeth Highway Richtung Westen fuhr, den Ontario-See zu ihrer Linken. Als sie die Hurontario Street erreichte, wandte sie sich nach Norden.

      Mississauga, eine Stadt mit einer halben Million Einwohnerinnen und Einwohnern, grenzte direkt an den Großraum Toronto. Es war ein sich ausbreitender Ballungsraum mit Wohnsiedlungen, Apartmenthäusern, Einkaufsmeilen und vereinzelten großen Einkaufszentren. Das Restaurant befand sich nur einen Kilometer nördlich des Queen Elizabeth Way, und zwar – keineswegs überraschend – in einer Einkaufsmeile.

      Ava nahm den Stapel Vertragsausfertigungen und klemmte ihn sich unter den Arm. Sie war zehn Minuten zu früh dran, aber Theresa war bereits da und stand an der Eingangstür. Sie kam Ava entgegengeeilt. »Lassen Sie mich Ihnen mit den Unterlagen helfen.«

      Als Ava ihr in das Restaurant folgte, begegneten ihr die Aromen von Koriander und Nuoc Mam, vietnamesischer Fischsauce. Theresa ging bis nach hinten durch. In dem Lokal befanden sich etwa zwölf Personen, und Ava dachte schon, Theresa hätte sie getäuscht, was die Zahl der Teilnehmenden anging. Doch dann vernahm sie Stimmengemurmel jenseits einer geschlossenen Tür. »Sie sind alle schon da«, sagte Theresa und öffnete die Tür.

      Es waren ungefähr sechzig Personen, die in vier Reihen hintereinander saßen. Im Raum wurde es schlagartig still, als die beiden Frauen eintraten. Alle Blicke waren auf Ava gerichtet.

      »Ich muss sagen, ich bin überrascht, dass Sie so schnell so viele Menschen zusammengetrommelt haben.«

      »Sie sind verzweifelt. Sie können sich an niemanden sonst wenden – das haben mein Bruder und ich ihnen klargemacht.«

      Theresa ging zu einem Tisch mit zwei Stühlen im vorderen Teil des Raumes und legte die Vertragsausfertigungen hin. Ein großer dünner Mann mit stahlgrauem Haar erhob sich von seinem Platz in der ersten Reihe und trat zu ihnen. »Das ist Eddie Trinh«, stellte Theresa ihn Ava vor. »Ihm gehört dieses Restaurant. Er wird als Dolmetscher fungieren.«

      Trinh schüttelte Ava die Hand und setzte sich dann an den Tisch, die Arme vor der Brust verschränkt. Ava blieb stehen und blickte die versammelten Menschen an. Die meisten von ihnen waren mittleren Alters oder älter; höchstwahrscheinlich Boat People oder deren Kinder – gute, hart arbeitende Immigrantinnen und Immigranten mit altmodischen asiatischen Werten.

      »Ich werde langsam sprechen und versuchen, nicht zu viel auf einmal zu sagen«, erklärte sie, an Trinh gewandt. »Es ist wirklich wichtig, dass alles ausführlich erklärt wird – wenn ich also zu schnell bin oder Sie etwas nicht verstanden haben, lassen Sie es mich bitte sofort wissen.«

      Er nickte und stellte sich dann neben sie.

      »Guten Abend. Mein Name ist Ava Lee«, begann sie. Sie sprach knapp eine halbe Stunde, erklärte, wer sie und Onkel waren und wie ihr Unternehmen funktionierte. Sie nahm eine der Vertragsausfertigungen und ging sie Seite für Seite durch. Als sie auf die dreißig Prozent Erfolgshonorar zu sprechen kam, sah sie, wie die Leute Blicke austauschten. Sie erklärte bis ins Detail, dass sie und Onkel die Auslagen trugen, ungeachtet des Ergebnisses.

      »Noch eine letzte Sache«, sagte sie schließlich. »Wenn wir diesen Auftrag übernehmen, arbeiten wir still und diskret. Niemand von Ihnen kann uns kontaktieren, und wir werden niemanden von Ihnen kontaktieren, es sei denn, es gibt etwas Entscheidendes zu berichten oder wir brauchen weitere Informationen. Wenn sich eine dieser Situationen ergibt, werde ich Theresa Ng anrufen – sie wird die Mittelsperson sein. Also erwarten Sie keine Zwischenberichte und erwarten Sie keinen unmittelbaren Erfolg. Diese Dinge erfordern oftmals eine Menge Zeit, und deshalb machen wir keine Versprechungen in Bezug auf die Dauer oder das Ergebnis unserer Arbeit. Wir werden unser Bestes tun, und zwar so schnell wie möglich, aber es kommt vor, dass wir keinen Erfolg haben. Gibt es hier jemanden, der oder die das nicht akzeptiert?«

      Ava blickte auf eine Mauer ausdrucksloser Gesichter. »Okay, dann lassen Sie uns die Verträge unterschreiben. Eine Person pro Familie, und ich muss die letzte Abrechnung sehen, die Sie von der Emerald Lion Fondsgesellschaft erhalten haben. Wir setzen die Summe in den Vertrag ein, und dann unterzeichnen Sie zwei Ausfertigungen und fügen Namen, Adresse, Telefonnummer hinzu. Ich unterschreibe den Vertrag im Namen unseres Unternehmens. Sie erhalten die eine Ausfertigung, ich die andere. Wenn Sie nun bitte nacheinander nach vorn kommen möchten.« Ava setzte sich hinter den Tisch und nahm den Mont Blanc Stift aus ihrer Tasche.

      Trinh und Theresa sorgten dafür, dass sich an der Wand entlang eine Schlange bildete.

      »Ich fange an«, sagte Theresa.

      Eine nach der anderen traten siebzehn Personen an den Tisch und reichten Ava eine Abrechnung mit dem Logo eines smaragdgrünen Löwen und einen Zettel mit ihrer Bankinformation. Ava übertrug die Bankinformationen in ihr Notizbuch, und nach jedem unterzeichneten Vertrag trug sie den Familiennamen und die geschuldete Summe in eine fortlaufende Liste ein. Beim zehnten Vertrag war sie bereits bei über fünfzehn Millionen Dollar. Nachdem der letzte Vertrag unterschrieben war, belief sich die Gesamtsumme auf zweiunddreißig Millionen. Ava wurde klar, dass Lam Van Dinh vermutlich eine ganze Menge mehr Geld veruntreut hatte, als ihr berichtet worden war.

      Nach der letzten Unterschrift schob Ava ihre Vertragsausfertigungen zusammen und verstaute sie in ihrer Chanel-Tasche. Die Menschen blieben noch, unterhielten sich miteinander und warfen Ava verstohlene Blicke zu. Sie konnte sich vorstellen, dass sie alle möglichen Fragen hatten, aber sie wusste, dass die meisten davon hypothetisch waren, und sie war nicht in der Stimmung für Mutmaßungen.

      Es war nach acht, als sie das Pho Saigon Ho Restaurant verließ. Theresa und Eddie Trinh begleiteten sie zur Tür. Sie sah ihnen an, dass sie ebenfalls etliche Fragen hatten oder zumindest die beiden, die jeder Klient, jede Klientin hatte: Wie lange wird das dauern? Wie viel glauben Sie zurückholen zu können?

      »Ich habe gemeint, was ich da drinnen gesagt habe«, erklärte Ava. »Ich habe keine Ahnung, ob es mir gelingt, Lam zu finden, oder, wenn ich ihn finde, ob er das Geld hat oder, falls er es hat, wie viel ich zurückholen kann. Und das kann sich wochenlang hinziehen.«

      Trinh setzte an zu sprechen, aber Theresa kam ihm zuvor. »Danke, Ava. Ich vertraue darauf, dass Sie sich melden, wenn etwas Wichtiges passiert.«

      »Ja, wenn etwas Wichtiges passiert«, bestätigte Ava. »Eine Sache wüsste ich noch gern: Wie heißt dieser Freund Ihres Bruders, der ein Freund von diesem Lam ist – derjenige, der Ihnen dieses Schlamassel eingebrockt hat?«

      »Lac – Joey Lac.«

      »Wie kann ich ihn erreichen?«

      Theresa schwieg einen Moment »Ich bin nicht sicher, ob er mit Ihnen sprechen wird.«

      »Warum nicht?«

      Eine weitere, längere Pause. »Als der Schlamassel anfing, ist mein Bruder zu ihm gegangen und hat ihm gesagt, er müsse etwas für uns tun und für unsere Freunde, denen wir den Fonds empfohlen hatten. Er hat gesagt, er würde es versuchen, und vielleicht hat er das auch, aber es ist nichts passiert. Mein Bruder ist sehr wütend geworden, und sie haben sich gestritten, und mein Bruder … er hat ihn geschlagen. Seitdem hat er von Joey nichts mehr gehört.«

      »Theresa, Sie müssen Ihren Bruder für mich anrufen und Ihr Bruder muss Joey Lac anrufen oder zu ihm gehen und irgendwie Frieden schließen. Es ist wichtig, dass ich mich mit ihm treffen kann. Geben Sie Ihrem Bruder meine Telefonnummer und bitten Sie ihn, sie an Lac weiterzugeben. Ich würde