an dem der Tag sich dem Ende neigte. Es gab E-Mails von Amanda Yee, der Verlobten ihres Halbbruders, aus Hongkong und von May Ling Wong aus Wuhan. Ava hatte Amanda während der Macao-Sache kennengelernt, und sie waren Freundinnen geworden. Amanda war Jack Yees einziges Kind. Jack besaß ein Handelsunternehmen, das gelegentlich – keineswegs ungewöhnlich für Händler – Probleme mit Lieferanten oder Kunden hatte. Er hatte Onkel und Ava bereits zwei Mal beauftragt, sein Geld wiederzubeschaffen. Sie waren beide Male erfolgreich gewesen und hatten einmal sogar sein Leben gerettet.
Ava hatte nicht gewusst, dass Amanda und Jack miteinander verwandt waren, als sie Amanda als Verlobte ihres Halbbruders kennenlernte. Es war ein Kennenlernen unter schwierigen Umständen gewesen, inmitten einer Entführung und dem finanziellen Fiasko, das das Unternehmen ihres Halbbruders Michael und das Wohlergehen der gesamten Familie bedrohte. Doch Amanda hatte sich als Fels in der Brandung erwiesen und sich Avas Respekt verdient. In ihrer E-Mail schrieb Amanda von ihren Sorgen um Hochzeitstermine und geeignete Lokalitäten, und – Freundschaft und Respekt hin oder her – das waren zwei Themen, für die Ava kein Interesse aufbrachte.
May Lings Mail war bunt und ausführlich. Ava hatte May Ling als Klientin kennengelernt. Sie und ihr Mann Changxing waren das wohlhabendste Paar in der Provinz Hubei und zählten zu den wohlhabendsten in ganz China. Sie hatten Ava und Onkel engagiert, um die Betrüger ausfindig zu machen, die ihnen gefälschte fauvistische Gemälde verkauft hatten, und ihr Geld zurückzuholen. Es war kein einfacher Job gewesen, der noch komplizierter wurde, als die Wongs beschlossen, auch noch Rache üben zu wollen. Lügen wurden erzählt, böse Taten folgten, und gleich zu Beginn der Bekanntschaft von Ava und May Ling kamen Misstrauen und Zorn ins Spiel. Doch die Unstimmigkeiten wurden beigelegt, und May hatte zu Avas Erfolg in Macao beigetragen, ja ihn nachgerade erst ermöglicht. Inzwischen waren die beiden Frauen Freundinnen. Und vielleicht wurde sogar mehr daraus. Mays E-Mails waren mitteilsam, voll von Neuigkeiten aus ihrem Geschäftsleben und anderen Dingen, die sich in ihrem Leben ereigneten. Sie stellte Fragen, bat um Rat, aber im Grunde schrieb sie an Ava, als schriebe sie Tagebuch. Anfangs war Ava irritiert gewesen, wenn May sehr persönlich wurde. Sie fand, sie müsse nichts von Mays Ängsten wissen, müsse keine Details aus ihrer Ehe und ihrem Sexleben erfahren. Doch dann gewöhnte sie sich an Mays Offenheit und stellte fest, dass sie – zögerlich – anfing, May auch von sich zu erzählen. Sie waren nie körperlich intim gewesen und würden es auch nie werden, aber es gab eine gefühlsmäßige Bindung zwischen ihnen. May Ling, eine Taoistin, sagte, es sei das qi – die Lebensenergie –, das zwischen ihnen fließe.
Ungefähr einmal in der Woche rief May an. Sie war klug, tough und witzig und konnte Avas Stimmung im Nu aufhellen. Während eines dieser Telefonate hatte May Ava gefragt, ob sie Interesse hätte, geschäftlich bei ihr einzusteigen. Es sei an der Zeit, dass sie und ihr Mann in Nordamerika investierten, und sie bräuchten jemanden, der dieses Engagement in die Wege leitete.
»Ich würde keine gute Angestellte abgeben«, sagte Ava.
»Dann eine Partnerin«, erwiderte May.
»Ich habe einen Partner, und ich habe ein Unternehmen.«
»Ava, du weißt, dass Onkel das nicht mehr lange machen kann, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du das ohne ihn fortführen möchtest.«
Seit zehn Jahren waren Ava und Onkel Partner im Inkassogeschäft. Sie hatten sich kennengelernt, als sie beide unabhängig voneinander denselben Dieb verfolgten, und sie hatten fast auf Anhieb eine Verbindung gespürt. Er war mittlerweile Ende siebzig oder vielleicht auch schon in den Achtzigern – sie wusste es nicht –, und er war längst mehr als ein Geschäftspartner geworden. Er war ein Mentor, beinahe ein Großvater, und er war der wichtigste Mann in ihrem Leben. Das war die Ursache ihres Dilemmas. Sie war den Stress, den ihr Job mit sich brachte, leid; sie hatte die Art von Menschen, die sie verfolgen musste, satt, und sie fing an, sich zu fragen, wie lange ihr Glück noch andauern mochte, wenn es darum ging, Kugeln und Messern auszuweichen.
Während ihrer Genesung hatte sie darauf gewartet, dass der Drang, wieder an die Arbeit zu gehen, sich bemerkbar machte. Das war nicht geschehen. Schließlich begann sie sich zu fragen, ob er möglicherweise überhaupt nicht zurückkehren würde.
Während ihrer Rekonvaleszenz war Onkel telefonisch mit ihr in Verbindung geblieben. Er schnitt keine geschäftlichen Themen an und fragte auch nicht, wann sie zurückkäme; seine Fragen galten allein ihrer Gesundheit sowie ihrer Familie und ihren Freundinnen. Er sprach über May Ling, mit der er gut bekannt war. Er hatte Ava gedrängt, sich mit ihr zu versöhnen, als ihre Beziehung auf dem Tiefpunkt war, und seine Einschätzung von May Lings Charakter hatte sich als richtig erwiesen.
»Die Frau hat guanxi, Einfluss, und könnte dir in den kommenden Jahren eine sehr mächtige Verbündete sein. Du musst ihr nahe bleiben«, hatte er einmal am Telefon gesagt.
Ava hatte keine Ahnung, ob Onkel von Mays Angebot wusste, und sie hatte nicht vor, ihm davon zu erzählen. »Ich habe einen Geschäftspartner«, erwiderte sie.
»Ja – einen, der nicht ewig da sein wird.«
»Ich habe einen Geschäftspartner«, wiederholte sie.
»Ich behaupte nichts Gegenteiliges«, sagte er.
Ava glaubte, dass sie und May Ling sich im Laufe der Zeit so verbunden fühlen könnten wie sie und Onkel – es war die Art Verbundenheit, bei der das Vertrauen absolut und Vergebung niemals nötig war. Die Chance, richtige Geschäfte zu machen, ein Unternehmen aufzubauen, war ein attraktives Angebot. Ava war Wirtschaftsprüferin mit Abschlüssen von der York University in Toronto und dem Babson College bei Boston, und ihr gefiel die Vorstellung, ihre Qualifikation für etwas anderes zu nutzen als dafür, gestohlenes Geld aufzuspüren und zurückzuholen. Doch wie sie es auch drehte und wendete – es lief immer auf dasselbe hinaus: Sie konnte Onkel nicht verlassen. Er liebte sie, das wusste sie, und ihr war klar, dass sie die Tochter – oder zutreffender: die Enkelin – war, die er nie gehabt hatte. Sie liebte ihn ebenfalls. Weder er noch sie hatte das Wort Liebe je ausgesprochen. Ihre Beziehung beruhte auf Dingen, die nie gesagt worden waren und auch nicht gesagt werden mussten.
Ava trank ihren Kaffee aus und überlegte, ob sie noch einen trinken oder mit ihrem Workout beginnen sollte. Zu Beginn ihrer zweiten Woche im Norden hatte sie ihr Training wiederaufgenommen. Sie hatte mit einem Morgenspaziergang begonnen, war dann dazu übergegangen, im Wechsel zu gehen und zu laufen, dann zu joggen, und inzwischen war sie in der Lage, eine ziemliche Strecke in fast ihrem alten Tempo zurückzulegen. Jeden zweiten Tag beschränkte sie ihren Lauf und ging zum Seeufer hinunter, um in langsamer Abfolge Bak-Mei-Bewegungsformen zu absolvieren, wie sie es gelernt hatte. Nur eine Handvoll Menschen in Kanada übten diese Kampfkunst aus. Sie wurde eins zu eins gelehrt, traditionellerweise vom Vater an den Sohn weitergegeben oder, in ihrem Fall, vom Lehrer an die Schülerin. Bak Mei war nicht schön anzusehen, aber sehr effektiv – es war darauf angelegt, größtmöglichen Schaden anzurichten. Ava war eine Expertin darin geworden.
»Ava, darf ich mich zu dir gesellen?«
Die Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie blickte hoch und sah ihre Mutter mit zwei Tassen neben sich stehen.
»Ich habe dir noch einen Kaffee gemacht«, sagte Jennie Lee.
»Danke. Ich bin überrascht, dass du so früh auf bist.«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Bedrückt dich etwas?«
Jennie reichte ihrer Tochter einen Kaffee und ließ sich dann ungeachtet der Feuchtigkeit in dem zweiten Muskoka-Stuhl nieder. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte sie, den Blick auf den See gerichtet.
Jennie ging auf die Sechzig zu, aber selbst ohne Make-up und im Licht der Morgensonne sah sie aus wie eine Frau in den Vierzigern.
»Worum geht’s?«, fragte Ava.
»Ich möchte, dass du mich um drei Uhr zum Casino fährst.«
»So früh, Mummy? Maria kommt erst um halb sechs dort an.«
»Ich weiß, aber ich möchte, dass du dort mit jemandem redest.«
»Mit