Bruno Kern

Die bedeutendsten Grabreden


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ist seine frau ohne ihn?

      wer spielt mit den kindern?

      wer ersetzt einen freund?

      wer hat die neuen ideen?

      dem herrn unserem gott

      hat es ganz und gar nicht gefallen

      dass einige von euch dachten

      Man möge dies als „Gegentext“ neben die in diesem Band wiedergegebene Predigt M.K.F. Gerstners legen. Sein Beharren auf dem „Was Gott tut, das ist wohl getan“ wird damit geradezu als blasphemisch entlarvt. Dabei kann sich Kurt Marti auf die beste biblische Tradition berufen, für die angesichts von Leid und Tod nicht nur die Klage eine angemessene Reaktion ist, sondern auch der anklagende Protest – gegen Gott selbst (vgl. etwa das Buch Ijob). Gerade um die Würde des Leidenden nicht zu verletzen und die Solidarität im Leid zu ermöglichen, darf es nicht religiös überhöht und „ruhiggestellt“ werden. „Protestleute gegen den Tod“ lautet denn auch Martis Definition für die Christen.

      Überzeugender sind da jene Totenreden, die ihre Ratlosigkeit und ihren Schmerz einfach aushalten, auf vorgefertigte Formeln verzichten und keinen anderen Trost gelten lassen als den, dass die verlorene nahestehende Person gelebt hat. In diesem Sinne kann man Karl Kraus’ Rede am Grab Peter Altenbergs lesen.

      Dass unser heutiger Anspruch an Authentizität auch das alte Wort De mortuis nil nisi bene in Frage stellt und an dessen Stelle die Ehrlichkeit gegenüber dem Toten treten lässt – auch dafür gibt es Beispiele in diesem Band, etwa Melanchthons Rede für Luther, oder Emersons Totenrede für Henry Thoreau, denen es beiden gelingt, auch kritikwürdige Züge des Verstorbenen angemessen zur Sprache zu bringen.

      Grabreden, zumal, wenn es sich um „berühmte“ handelt, haben einen öffentlichen Charakter. Ihr Adressat ist in den meisten der hier dokumentierten Fälle nicht nur ein kleiner Kreis von Hinterbliebenen, sondern die „Öffentlichkeit“ in irgendeiner Form. Das bestimmt auch den vom Redner verfolgten Zweck. Der Tod einer prominenten Person kann so zum Anlass werden, eine öffentliche „Sache“ zu vertreten, wie es etwa Abraham Lincoln in seiner Rede für Henry Clay tat. Das ehrende Gedenken des Toten benutzte er vor allem, um in der Sklavenfrage Stellung zu beziehen. Was hier legitim ist, weil es hinreichend von den Intentionen des Verstorbenen selbst gedeckt ist, birgt jedoch auch die Gefahr des Missbrauchs und der Instrumentalisierung in sich. Auch dies ist im vorliegenden Band belegt. Grabreden partizipieren also auch an der jeweiligen Kultur oder Unkultur politischer Rede. Gerade angesichts der allzu bekannten unrühmlichen Beispiele aus jüngster Zeit in dieser Hinsicht habe ich zum Abschluss dieses Bandes Richard von Weizsäckers Totenrede für Willy Brandt gewählt – ein Beispiel verantworteter öffentlicher Rede, die Ehrung eines Verstorbenen, die zugleich dem zur Ehre gereicht, der ihn würdigt.

      Das Adjektiv „berühmt“ wird, sofern es sich auf große Persönlichkeiten bezieht, allerdings durch die Sache selbst Lügen gestraft. So weist auch in diesem Band gerade Jacques-Bénigne Bossuet auf die nivellierende Wirkung des Todes hin, vor der alle sozialen Unterschiede verschwinden, und er wagt es, dem Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. entgegenzuhalten: „Gott allein ist groß, auch Könige müssen sterben!“ Inmitten des Prunks dieser glänzenden Epoche macht er die Stimme des alttestamentlichen Predigers (Kohelet) vernehmbar: Vanitas vanitatum – nichtig und eitel ist alles!

       Bruno Kern

      „Mein Freund, den ich liebe, ist zu Erde geworden“

       Gilgameschs Klage um Engidu

      (2. Jahrtausend v. Chr.)

      Einführung

      Wir stehen hier vor dem ältesten uns bekannten schriftlich überlieferten Mythos der Menschheitsgeschichte und damit an der Schwelle zum Schriftgebrauch, der die Vorgeschichte von der Geschichte trennt. Während bis in die Jungsteinzeit die Erfahrungswelt, das Denken und Empfinden der Menschen,