Bruno Kern

Die bedeutendsten Grabreden


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die Ornamentik usw., erschlossen werden konnte, haben wir es ab jetzt mit sprachlichen Äußerungen der Menschen selbst zu tun, die es uns erlauben, mit ihnen in ein „Gespräch“ einzutreten. Die Ursprünge dieses Mythos reichen möglicherweise ins 3. vorchristliche Jahrtausend, in die damalige sumerische Stadtkultur, zurück. Die ersten Textfragmente finden sich auf Tontafeln in sumerischer Keilschrift. Die am besten erhaltene und deshalb heute als „kanonisch“ geltende Fassung aber ist die sog, „jungbabylonische“, zwölf Tontafeln mit Keilschrift in jungbabylonischer Sprache, die in Ninive aufgefunden wurden. Sie enthält auch den ursprünglich eigenständigen Sintflutmythos, der später im Buch Genesis des Alten Testaments wieder auftaucht. Im Zweistromland erfuhr das Gilgamesch-Epos eine lebhafte Überlieferungsgeschichte in unterschiedlichen Sprachen. Viele Lücken im Text können mithilfe späterer Überlieferungen einigermaßen sicher rekonstruiert werden. Der Hauptprotagonist des Mythos ist der sagenhafte König von Uruk, Gilgamesch, zu einem Drittel Mensch und zu zwei Dritteln Gott. Ihm wird von den Göttern der Steppenmensch Engidu zur Seite gestellt. Sie werden unzertrennliche Freunde und bestehen etliche Abenteuer zusammen. Doch Engidu stirbt. Die Endgültigkeit der Trennung vom geliebten Freund löst nicht nur unstillbaren Schmerz bei Gilgamesch aus, sondern das bangende Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit. So macht er sich auf, um das ewige Leben zu suchen.

      Im Mittelpunkt dieses Mythos steht also die existenzielle Erfahrung des Menschen, die Frage nach seinem eigenen Dasein und dessen Grenzen. Dass ein Jahrtausende alter Mythos nicht nur das distanzierte Interesse des Historikers weckt, sondern auch heute noch in der Lage ist, existenziell anzusprechen und zu berühren, bezeugt der Schriftsteller Elias Canetti in seiner Lebensbeschreibung: „Gilgameschs Klage über den Tod seines Freundes Enkidu traf mich ins Herz … Die Wirkung eines Mythus habe ich auf diese Weise in mir erfahren: als etwas, das ich im halben Jahrhundert, das seither verflossen ist, auf viele Arten bedacht und in mir hin und her gewendet, aber nicht einmal ernsthaft bezweifelt habe … Es geht nicht darum, wie ein Papagei zu wiederholen, dass alle Menschen bis heute gestorben sind, es geht nur darum, zu entscheiden, ob man den Tod willig hinnimmt oder sich gegen ihn empört. Ein Recht auf Glanz, Reichtum, Elend und Verzweiflung aller Erfahrung habe ich mir durch die Empörung gegen den Tod erworben. In diesem endlosen Aufstand habe ich gelebt. Und wenn der Schmerz um meine Nächsten, die ich im Laufe der Zeit verlor, nicht geringer war als der des Gilgamesch um seinen Freund Enkidu, so habe ich doch eines, ein einziges vor dem Löwenmenschen voraus: dass es mir um das Leben jedes Menschen und nicht nur um das meiner Nächsten geht.“ (Canetti, 59 – 61)

      Die Klage

      Da versammelt Gilgamesch seine Edlen und spricht:

      „Hört mich, ihr Ältesten, schaut auf mich!

      Wegen Engidus, meines Freundes, weine ich.

      Wie ein Klageweib schreie ich bitterlich.

      Die Axt an meiner Seite,

      Die Lanze in meiner Hand,

      Das Schwert an meinem Gürtel, meiner Augen Freude,

      Mein Festgewand, das meine Kraftfülle bedeckt,

      Was soll es mir?

      Ein böser Geist hat sich erhoben und mich ins Unglück gestürzt“ …

      [Und Gilgamesch kehrt an das Lager des Freundes zurück und spricht:]

      „Du Panther der Steppe,

      Der alles vermochte, so dass wir den Berg erstiegen,

      Den Himmelsstier packten und schlugen,

      Chumbaba niederwarfen,

      Der im Zedernwald wohnte:

      Was ist das nur für ein Schlaf,

      Der dich gepackt hat?

      Du siehst finster aus und hörst meine Stimme nicht!“

      Doch der erhebt seine Augen nicht mehr:

      Er berührte sein Herz, doch es schlägt nicht mehr!

      Da deckte er den Freund zu wie eine Braut.

      Einem Löwen gleich erhob Gilgamesch die Stimme.

      Einer Löwin gleich brüllte er auf.

      Er wendet sich dem Freunde zu,

      Er rauft seine Haare und streut sie hin …

      Sobald ein Schimmer vom Morgen erglänzte, erhob Gilgamesch neue Klage:

      „Auf wohlbereitetem Ruhebett ließ ich dich ruhen,

      Ich ließ dich eine ruhige Wohnstatt bewohnen …

      Fürsten der Erde ließ ich deine Füße küssen.

      Nun will ich die Leute des umfriedeten Uruk um

      dich weinen und um dich jammern lassen,

      Die zahlreichen Leute will ich dir dienen lassen,

      Und ich selbst will um dich Trauerkleider anlegen,

      Will mich in Löwenfelle kleiden und über die Steppe eilen“ …

      Gilgamesch weint bitterlich um seinen Freund Engidu und eilt über die Steppe:

      „Werde nicht auch ich wie Engidu sterben?

      Wehklage ist in mein Herz gezogen.

      Ich habe Furcht vor dem Tod bekommen,

      Deshalb eile ich über die Steppe.

      Zu Utnapischtim, des Ubara Tutu Sohn, nehme ich eilends den Weg.

      […]

      Gilgamesch sagt zu ihm, zu Utnapischtim:

      „Wie sollen nicht meine Wangen abgezehrt,

      Mein Antlitz gesenkt,

      Mein Herz betrübt und aufgerieben meine Gestalt sein?

      Wie sollte nicht Weh in meinem Herzen sein?

      Wie sollte ich nicht einem Wandrer ferner Wege gleichen?

      Wie sollte mein Antlitz nicht von Kummer und Leid verstört sein?

      Wie sollte ich nicht von weit her über die Steppe eilen?

      Mein Freund, der Panther der Steppe,

      Engidu, mein lieber Freund, der alles vermochte,

      Dass wir den Berg erstiegen,

      Den Himmelsstier packten und schlugen,

      Chumbaba niederwarfen, der im Zedernwald hauste,

      Und in Bergesschluchten Löwen erlegten,

      Mein Freund, der mit mir alle Mühsal durchwanderte,

      Engidu, mein Freund, der mit mir Löwen tötete,

      Der mit mir alle Mühsal durchwanderte,

      Ihn hat das Schicksal der Menschen erreicht.

      Sechs Tage und Nächte habe ich um ihn geweint,

      Bis zum siebenten Tag ließ ich ihn nicht begraben.

      Da fürchtete ich mich […]

      Und Furcht vor dem Tode ergriff mich.

      Deshalb eile ich über die Steppe.

      Das Schicksal meines Freundes lastet auf mir:

      Deshalb eile ich einen weiten Weg über die Steppe.

      […]

      Wie soll ich es verschweigen?

      Wie soll ich es hinausschreien?

      Mein Freund, den ich liebe, ist zu Erde geworden.

      Engidu, mein Freund, den ich liebe,

      ist zu Erde geworden!

      Werde nicht auch ich,