Frederik Hetmann
Amerika Saga
Von Cowboys, Tramps und Desperados
Mit Holzschnitten von Günther Stiller
FUEGO
- Über dieses Buch -
Ausgezeichnet als bestes Jugendbuch mit dem
deutschen Jugendbuchpreis 1965
Jurybegründung: Frederik Hetmann hat mit viel Interesse und Liebe amerikanische Volksbücher, Sagen, Legenden, Märchen, Balladen und Lieder gesammelt, in der deutschen Sprache neu gestaltet und in vier Kapiteln - »Der Osten«, »Der Westen«, »Das Industriezeitalter« und »Der Süden« - zu einem faszinierenden Buch gegliedert. So entstand ein Werk neuen Stils, das Geschichte und Geschichten vermittelt. Dem Leser wird ein vielseitiges und unmittelbares Bild von der amerikanischen Pionierzeit dargeboten, das aufräumt mit Klischeevorstellungen vom »Wilden Westen«. Alle Formen amerikanischen volkstümlichen Erzählens wurden herangezogen und zu einem geschlossenen farbigen Mosaik amerikanischer Geschichte zusammengeführt. In seinem sachlichen und literarischen Gehalt ist das Buch gleich wertvoll. Es führt hin zu seine Wurzeln der heutigen amerikanischen Short-Story und dem Blues unserer Tage. Die Gestaltung entspricht dem besonderen Wert des Buches.
Für Nor in Liebe
Casey sprach:
»Ich weiß eine Handvoll Geschichten,
aber vor allem mag ich die Menschen.«
John Steinbeck
Vorwort
Amerika, o Amerika!
Dieses Buch will Geschichte und Geschichten aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika erzählen: wie dieses Land, welches sich das Land der Freiheit nennt, entstand, wie es sich entwickelte, wie es träumte, lebte, arbeitete, wie es Geschichten erzählte, wie es Lieder sang, wie es ein Land wurde, in dem, stärker vielleicht als anderswo, die Menschen ihren Traum vom irdischen Glück, von einem menschenwürdigen Dasein und von einer gerechten Gesellschaft zu verwirklichen trachteten.
Die Absicht ist die eines Abenteuers. Unsere Fantasie soll durch die Geschichte, durch die Legenden, Sagen, Märchen, Balladen und Lieder dieses Landes streifen. Die Szenerie für dieses Abenteuer ist das große Viereck, das sich auf unseren heutigen Landkarten etwa durch die Städte Boston, New Orleans, San Francisco und Seattle markieren ließe.
Die Szenerie ist eine Landmasse, die in ihren Grenzen fast alle Landschaftsformen der Erde vereinigt, in der es Wüsten und fruchtbare Ebenen, große Wälder und Steppen, mächtige Ströme, hohe Gebirge, Salzseen, schroffe Felsküsten und palmenbestandene Sandstrände gibt. Eine Landmasse, die fast alle Wunder der Natur und all ihre Schätze birgt und auf der sich drei menschliche Rassen begegnen: Indianer, Schwarze und Weiße.
Die Szenerie ist ein weiter Raum, wo in den Jahren seiner Besiedlung ebenso wie noch heute Platz war für Helden, Feiglinge, Wohltäter und Bösewichte, für Idealisten und Realisten, für Träumer und Pioniere, für Abenteurer und Weise. Die Szenerie ist ein Staat, der unvollkommen blieb wie alle menschlichen Einrichtungen, dessen Bürger aber bis heute den Sinn für die Würde des Menschen und für seine Grundfreiheiten bewahrt haben, und die für die Vervollkommnung dieser Prinzipien und ihre Erhaltung im eigenen Land wie in allen anderen Ländern dieser Erde bereit sind, sich einzusetzen und zu kämpfen.
Die Geschichte und die Geschichten dieses Landes sind gemeinsam zu erzählen, denn eines kommt ohne das andere nicht aus, und beides hat seine Bedeutung und seine Richtigkeit. Weder die nüchterne Tatsache noch die Vorstellung der Fantasie allein enthält die ganze Wahrheit. Erst für den, der beide sieht, hört, bedenkt und prüft, wird der Blick frei auf das wahre Schicksal des Menschen, das Menschen immer wieder am meisten bewegt hat, noch dazu, wenn es sich unter so einzigartigen Umständen vollzieht.
Vielleicht vermag ein kurzer Bericht über die Entstehung dieses Buches am besten etwas über seine Absicht auszusagen. Als Kind und als Jugendlicher lebte ich in jenem Teil Deutschlands, der hinter dem Eisernen Vorhang lag. Für uns Schuljungen der Jahre 1945 bis 1948 war Amerika nicht nur ein Indianertraum, vielmehr verband sich dieses Wort in unserer Vorstellung mit den Gedanken an Reichtum und Überfluss, aber auch an politische Freiheit. Daraus aber formte sich in unserer Fantasie eine schimmernde Seifenblase. Amerika, o Amerika! Amerika war unser Land der Fantasie schlechthin. In gewissem Sinn hat mich meine Neugier dazu gebracht, diesem Traum von Amerika, dem Traum von der Neuen und ganz anderen Welt bis heute auf der Spur zu bleiben. Sechs Jahre lang sammelte ich amerikanische Volkslieder, Sagen, Legenden, Märchen. Ernüchterungen, aber auch erneutes Staunen waren das Ergebnis.
Wen die Fantasie einmal mit einem großen Traum infiziert hat, der wird allergisch gegen Träume, die in Konfektion hergestellt werden. Sooft ich einen Wildwestfilm sah, sagte ich mir, dass die Wahrheit erregender, fantastischer und zugleich auch erstaunlicher gewesen sein müsse, als es die Drehbuchschreiber von Hollywood uns vorgaukeln. So kam ich dazu, Gerichtsakten des Staates Texas zu studieren und die verschiedenen Versionen von Volksliedern in der Alten und in der Neuen Welt zu vergleichen und die Geschichten um den Schinderhannes Amerikas, Jesse James, an der Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges zu messen; und plötzlich war ich mittendrin in jener schimmernden Seifenblase, die für den Schuljungen unerreichbar fern über den Horizont geschwebt war. Ich betrachtete sie nun von innen, aber siehe da, sie schimmerte noch immer.
Sich dem Wesen eines Landes auf dem Umweg über die Gebilde seiner Fantasie nähern: So könnte man den Versuch umschreiben, den dieses Buch unternimmt. Dass wir dabei auf manches Bekannte, aus der eigenen Sagen- und Märchenwelt Vertraute stoßen werden, muss uns nicht wundem, denn im Reich der Fantasie bestand die Gemeinschaft zwischen Diesseits und Jenseits des Atlantik schon lange, ehe die Politiker den Zusammenhang zwischen Europa und Amerika in Bündnissen zu formulieren versuchten.
Frederik Hetmann
Der Osten
Eine Nation wird geboren
Von den ersten Siedlern bis zum Unabhängigkeitskrieg 1600 – 1800
Die Geschichte der Vereinigten Staaten von Nordamerika beginnt mit zwei Siedlungsunternehmen um das Jahr 1600. Jamestown in Virginia und Plymouth im heutigen Staate Massachusetts sind zwar nicht die ersten Siedlungen in der Neuen Welt Schon gibt es in Nordamerika Niederlassungen der Franzosen in Kanada; schon haben die Spanier in New Mexico Städte gegründet, und schon haben ebenfalls Spanier die Halbinsel Florida besiedelt. Aber nicht aus diesen Kolonien sollte sich die nordamerikanische Nation entwickeln, sondern aus den beiden unscheinbaren Kolonien Jamestown und Plymouth. Was war das Besondere an ihnen?
Die Männer, die am 13. Mai 1607 unter dem Befehl eines Christopher Newports in Hampton Roads landeten und die Siedlung Jamestown mit der Errichtung eines Forts, einer Kirche und einer Anzahl kleiner Hütten gründeten, waren Abenteurer, aber sie waren auch freie Männer. Zwar hatte sie die Handelsgesellschaft, die Virginia Company, über den Ozean geschickt, aber sie besaßen auch ein königliches Patent, das ihnen »alle Freiheiten, Gerechtsamkeiten und Privilegien eines Bürgers in England« garantierte.
Die ersten Jahre waren schwer. Einmal wollten die Männer die neue Siedlung schon wieder aufgeben, denn ihre Vorräte waren alle aufgezehrt. Sie wanderten zur Mündung des Flusses, an dem Jamestown lag, und sichteten dort das ersehnte Versorgungsschiff aus England. Da fassten sie wieder neuen Mut.
Nach sechs, sieben Jahren war das Schlimmste überstanden. Man baute Tabak an, der sich in England