Regimes im 20. Jahrhundert – ein bescheidener Anfang.
4 Staatsbürger als Übergangswesen
Eine Pointe der Entwicklung seit dem Herbst 1989: Das Problem der Staatsbürgerschaft hat sich seither nicht ent-, sondern verschärft. Der Beitritt der Ex-DDR zum Grundgesetz hat hüben wie drüben nationale Erwartungen erzeugt und gleichzeitig staatsbürgerlich gesicherte Verhältnisse zementiert, die den gesellschaftlichen Realitäten längst nicht mehr entsprechen. Weil die nationalen Erwartungen nicht oder nur zum Schein erfüllt sind, verlegen sich besonders innig vereinigte Deutsche darauf, Minderheiten kompensatorisch als Schuldige für die ganze Misere auszumachen. Flüchtlinge, Ausländer, Asylsuchende und Fremde wurden über Nacht zu Sündenböcken. National neu angestrichen, wissen »die Deutschen« nach der vermeintlichen »Weltwende« jetzt angeblich genau, wer »sie« und wer »die« Anderen sind. Von solchem Wahn ist es nur ein Schritt zum »feste druff« auf die Fremden.
Die Resultate bei den jüngsten Kommunalwahlen (zum Beispiel in Hessen) zeigen, wie massiv das geltende Staatsbürgerrecht mithilft, »richtige« Mehrheiten herzustellen. In Städten zählt ein Fünftel bis ein Viertel der Einwohner einfach nicht, obwohl sie Steuern zahlen und auch die Rentenversicherung mitfinanzieren – im Gegensatz zu deutschen Beamten. Dem eignet eine besondere Infamie. Denn indem man Ausländer zwar zu den Pflichten heranzieht, ihnen aber die Ausübung des Bürger- wie des Wahlrechts verweigert, erhalten die rechtsradikal wählenden Deutschen erst ihr Gewicht von rund zehn Prozent.
Dass sozialdemokratische Politiker jetzt die Aussiedler als Wahlkampfthema entdecken, ist genauso widerlich wie der Versuch der CDU/CSU vor ein paar Jahren, Arbeitslosigkeit und Krise mit der Zahl der Ausländer zu erklären. Am Stammtisch wird sowieso nicht unterschieden zwischen Aussiedlern und Ausländern. Dort sind beide Fremde, die allein deshalb nicht hierher gehören. Das Problem der Aussiedler, deren jährliche Einwanderungsquote seit 1993 auf 250 000 begrenzt wird, ist ein hausgemachtes. Es hängt zusammen mit den Abgründen des deutschen Staatsbürgerrechts.
Die Bonner Koalition passte nicht das blutsrechtliche Staatsbürgerrecht dem universalistisch-humanitären Asylrecht an, sondern verfuhr genau umgekehrt: Das Staatsbürgerrecht in der Tradition des halbkannibalischen ius sanguinis wurde nicht angetastet, das Asylrecht jedoch in der Hoffnung verstümmelt, dass etwas von dem nationalen Überdruck, der von den Parteien mit ihrer Kampagne gegen Asylsuchende und Flüchtlinge demagogisch geschickt orchestriert wurde, entweichen kann. Dies könnte jedoch ins Auge gehen, weil sich die derart erzeugte nationale Grundwelle von ihren Erzeugern längst emanzipiert hat. Die Zauberlehrlinge werden sich noch wundern.
Aufgeklärte Verfassungen definieren, wer Staatsbürger ist, in der Regel an zentraler Stelle der Verfassung oder in einem besonderen Gesetz. Nicht so das Grundgesetz. Jeder Staat unterscheidet zwischen Inländern und Ausländern und regelt den Modus, wie man vom Ausländer zum Inländer werden kann. Entgegen dem Volksvorurteil ist »der Deutsche« eine sehr junge Erfindung. Alemannen, Baiern, Sachsen, Franken usw. sind sehr viel älter als »die Deutschen«. »Deutscher« konnte man während Jahrhunderten überhaupt nur in einem sprachlich-kulturellen Sinne sein, politisch-rechtlich war man Untertan bzw. Bürger eines Landesherrn oder einer Stadt. Der politische Ausdruck »deutsche Nation« stellte immer die Verbindung zum »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation« her, also gerade zu einem supranationalen Gebilde, dem u. a. auch Ungarn, Kroaten, Norweger, Böhmen mitangehörten. Der politische Begriff »deutsches Volk« ist erst nach der Französischen Revolution aufgekommen.
Die Frankfurter Reichsverfassung (28.3.1849) bestimmte: »Das deutsche Volk besteht aus den Angehörigen der Staaten, welche das deutsche Reich bilden.« Die Reichsverfassung vom 16.4.1871 übernahm diesen Grundsatz: »Die Reichsangehörigkeit wird durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat erworben und erlöscht mit deren Verlust.« Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.7.1913 änderte daran nichts. Man blieb also wie schon seit Jahrhunderten zuerst Hamburger, Sachse oder Hesse und erhielt sekundär die Reichsangehörigkeit. Eine landesunabhängige deutsche Staatsangehörigkeit dekretierten erstmals die Nazis am 5.2.1934.
Im Bonner Grundgesetz erscheinen die Bestimmungen über die Staatsbürgerschaft unter den »Übergangs- und Schlussbestimmungen«. Der Ort verweist auf das Provisorische der Bonner Einrichtungen. Der »Normentyp«, der in diesem Abschnitt geschaffen wurde, besteht aus Rechtsmaterien, die Juristen »gegenstandsverzehrenden Abschmelzungsprozessen« ausgesetzt sehen, wie der »Alternativkommentar« sagt.
Der Grund: Es ging um die Vorsorge für bessere Zeiten. Um Rechtsansprüche und politische Optionen auf 1945 Verlorenes und bis 1949 Ungeklärtes offenzuhalten, nahm man es in Kauf, ein Substrat der Verfassung – Bürgerinnen und Bürger – rechtlich als Übergangswesen zu definieren.
Laut Grundgesetz Art. 116 gibt es außer deutschen Staatsangehörigen und Ausländern noch Menschen »deutscher Volkszugehörigkeit« mit vorübergehend »falscher« Staatsangehörigkeit, aber »richtiger« Abstammung. Die Rechtskonstruktion des »sonstigen Deutschen« ist ebenso kühn wie einmalig in der Rechtsgeschichte. »Der Rechtsbegriff der sonstigen Deutschen ist dabei neu geschaffen worden« (Maunz-Dürig-Herzog); »dabei« heißt bei der Schaffung des Grundgesetzes. Logisch meint dies: Bis zum 23.5.1949 kannte die ganze Welt nur deutsche Staatsangehörige und nicht deutsche Staatsangehörige; das Grundgesetz bescherte der Welt ein Drittes – den Abruf-Deutschen, das versandbereite Übergangswesen, dessen Vorfahren zwar vor 100, 200 oder auch 800 Jahren von dannen gezogen waren, aber ihr »Deutschtum« angeblich weitervererbten.
Wie man Volksdeutscher wird bzw. bleibt, regelten bis 1993, als die unbeschränkte »Vererbbarkeit« dieses Rechtstitels eingeschränkt wurde, die Gesetze vom 22.2.1955 und 23.10.1961. Danach gilt als »deutscher Volkszugehöriger«, wer »sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.« Diese Definition des »Volksdeutschen« übernahm das letzte Gesetz wörtlich aus dem Runderlass des Reichsministers des Innern – Wilhelm Frick – vom 29.3.1939. Das Gesetz entstand, als in Bonn noch die Vertriebenenverbände die Gesetzestexte formulierten. Nach dem Krieg wollten Balten ihr »Bekenntnis zum deutschen Volkstum« damit belegen, dass sie auf ihre SS-Zugehörigkeit hinwiesen. In anderen Landstrichen, z. B. an der Wolga, spielte den Menschen die bloße Tatsache, dass ihre Vorfahren irgendwann aus einem deutschen Teilstaat eingewandert waren, übel mit. Die Bundesrepublik kann ihre Solidarität mit dem Schicksal dieser Menschen auf verschiedene Weise unter Beweis stellen, aber um eine Totalrevision des antiquierten blutsrechtlichen Staatsbürgerrechts kommt sie je länger je weniger herum.
5 Anfänge der Ökologiebewegung
Zu den Büchern, die die aufkommende Ökologiebewegung der 60er und 70er Jahre stark beeinflussten, gehört der 1962 erschienene, weltweit verbreitete Bestseller von Rachel L. Carson (1907-1964) mit dem Titel »Der stumme Frühling«. Aus Anlass des 100. Geburtstags der Autorin hatte der Münchener Verlag C. H. Beck das Buch erneut aufgelegt. Die ehemalige Beamtin in der amerikanischen Verwaltung für das Fischereiwesen und spätere Sachbuchautorin wies auf die dramatischen Gefahren hin, die zuerst der Vogel- und Insektenwelt, dann der gesamten Umwelt drohten, wenn in der industriellen Landwirtschaft weiterhin so viele Pestizide – insbesondere DDT – verwendet würden. Die Autorin verband Wissenschaft mit dem politischen Protest gegen Umweltverschmutzung und fast poetischer Naturbewunderung und schuf damit so etwas wie den intellektuellen Kern des modernen Umweltbewusstseins.
Schon 1957 forderte der konservative Journalist Bertrand de Jouvenel: »Die politische Ökonomie müsste politische Ökologie werden.« Der französische Biologe Jean Dorst legte mit dem Buch »Natur in Gefahr« (1965) erstmals umfassend dar, in welchem Ausmaß und mit welcher Beschleunigung das natürliche Gleichgewicht durch agro-industrielle und andere Eingriffe gestört und zerstört wurde. Das Buch wurde in Frankreich mehr beachtet als anderswo. Serge Moscovicis »Versuch über die menschliche Geschichte der Natur« erklärte »das Problem der Natur« bereits 1968 als das vordringlichste des Jahrhunderts und verknüpfte die Kritik der Gesellschaft mit der Kritik von deren »Verhältnis zur Natur und der Tätigkeit des Menschen zur Konstituierung beider«. Eine vergleichbare intellektuelle Sensibilisierung für ökologische Fragen ist im deutschen Sprachraum erst nach