Petra Häußer

Ein herrliches Vergessen


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Zweige, dann zog er sich einen Stuhl heran und hängte die nächsten Kugeln auf. Das mit den Kerzenhaltern war schwieriger, die dicken weißen Kerzen aus dem Badezimmer passten nicht hinein. Andere Kerzen fand er nicht. Was für ein Glück! Denn wohin hätte das wohl geführt.

      Er ging wieder zurück, freute sich an all dem Licht, dem stillen, flackernden Leuchten in dunkler Nacht. Merkte schließlich, dass er fror. Trotz der milden Temperaturen in diesem Winter hatten die Schwarzwaldnächte ein eiskaltes Kleid an. Weihnacht 1920. Er hatte sie sich hell gemacht. Ganz alleine. Und er war jetzt müde. Mit all seinen Kleidern, dem Mantel, der Mütze, dem Schal legte er sich in sein Bett. Schwer waren seine Lider. Dass er sie offen halten wollte, dachte er, dass er warten wollte auf seine Eltern, die doch bald schon kommen würden, daran klammerte er sich, während ihm die Augen endgültig zufielen.

      Als Käthe und Georg zu später Stunde mit müden großen Schritten den Berg hinaufgingen, sahen sie von Ferne schon den flackernden Lichtschein hinter den Fensterscheiben. Hatten sie denn nicht die Läden vorgeklappt? Sie schauten einander an und beschleunigten ihre Schritte. Atemlos schlossen sie die Tür auf und standen im hell erleuchteten Haus, rochen die Kerzen, einige von ihnen waren schon abgebrannt. Die Eltern eilten hinauf ins Kinderzimmer und sahen ihn dort liegen, ihren Sohn, seine ihm Schlaf aufgelösten Züge. Die Mütze neben das Bett gefallen.

      „Das ist doch ...“

      Bevor Georg weitersprechen konnte, sagt Käthe: „Eine frohe Weihnacht. Die wünsch ich dir und ihm und mir.“

      Sie sah ihn an mit weit geöffneten Augen und zusammengepressten Lippen. Georg hielt diesen Blick nicht aus. Er schlug die Augen nieder. Dann stand er auf und verließ wortlos den Raum. Käthe zog Willi vorsichtig den Mantel aus und die Stiefelchen. Er war zu erschöpft gewesen, um sie aufzuschnüren, dachte sie, und ihr Herz tat weh dabei. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, nahm den Kerzenhalter, in dem gerade der letzte Rest des Dochtes verglühte, und beim Hinausgehen schaltete sie das Licht aus.

      13

      Willis Geburtstag. Die Mutter hatte ihm eine eigene Torte gebacken, sie mit kleinen Marzipanhasen und Mohrrübchen verziert, Büschelchen aus Minzeblättern darum dekoriert und mittenhinein die sechs kleinen goldenen Kerzen gesteckt, die er mit einem Atemzug ausblasen sollte, das bringt nämlich Glück, und wer kann das nicht brauchen? Jeder brauchte das doch, sonst gelang nichts im Leben. Aber eigentlich war das nur ein Moment, ein winziges Loch in der Zeit. Die Routine des Hoteltages verschlang diesen Glückssplitter und machte ihn fast ungeschehen. Wäre die kleine braune Ledertasche nicht ab jetzt in Willis Zimmer auf dem Korbsessel gelegen, das Schwämmchen nicht an ihr heruntergebaumelt und hätte es sich nicht immer wieder sachte bewegt, wenn man beim Vorbeigehen ein bisschen Wind machte, dann hätte er geglaubt, er hätte diesen Geburtstag nur geträumt. In der Tasche lag das große Kuvert mit vielen Zeitungsausschnitten von Fried und Mine, die ihn an den Bodensee erinnern sollten, auf dass er ihn nicht vergessen möge. Die Schultasche hatten die beiden von Frieds Bruder fertigen lassen aus weichem Kalbsleder, das herrlich roch.

      Zwischen Weihnachten und Ostern verflogen die Wochen. Der kalte Westwind brachte ergiebige Schneefälle. Es schneite so sehr, dass man keinen Hund vor die Tür schickte. An Schlittenfahren war nicht zu denken, jedoch es gab so viel zu sehen und zu erleben im Hotel. Die vielen Menschen im Haus. Denn wenn auch nur wenige Kurgäste im Winter kamen, so musste doch der Betrieb laufen und dazu wurde eine ganze Mannschaft verschiedener dienstbarer Geister gebraucht. Ständig gab es einen, der dem kleinen Bub die Haare zerzauselte oder ihm einen kleinen Klapps hintendrauf gab, ganz freundschaftlich, versteht sich, aber er stand eben auch oft im Weg herum, war ein ins Räderwerk geratenes Sandkorn, das man loswerden musste, wenn die Maschinerie laufen sollte.

      Dann kam die Sonne und man konnte Schlitten fahren. Einmal ging sogar der Vater mit, kurz bevor es dunkel wurde, in der Zeit, bevor er sich zum abendlichen Service umziehen musste. Er lachte beim Schlitteln! Er hielt seinen Arm fest um seinen Sohn geschlungen und Käthes Augen leuchteten, als sie die beiden den Abhang heruntersausen sah. Ihre Hände hatte sie im Muff versteckt, mit den Füßen trappelte sie hin und her, weil die Kälte in ihre Zehen biss. Willi schloss die Augen und lachte auch.

      Die Tage wurden bald wieder länger, der Schnee taute und plötzlich war der große Tag da.

      „Ach Gott, heute ist das schon, fast hätt’ ich’s vergessen!“

      Muttersein war noch keine Routine für Käthe, das musste sie erst noch üben. Eine Schultüte konnte in allerletzter Minute von Imogen, dem Zimmermädchen, in einer Papeterie in der Freiburger Straße erworben und mit Süßigkeiten gefüllt werden. Dazu steckte sie noch zwei Bleistifte und einen Notizblock aus der Rezeption. Karl, der Portier, warf zuallerletzt einen silbernen Suppenlöffel hinein, einen von den kleineren, die man zur Schildkrötensuppe servierte. Er meinte später, er habe etwas Bleibendes dazu geben wollen, als gutes Omen, damit das Kind es leicht haben möge in der Schule. Vermutlich dachte er mit Grausen an die eigene Schulzeit zurück, vor allem an die Tatzen, die Züchtigungen auf seine dünnen Fingerchen und später auf den gekrümmten Rücken, an alles, was maßgeblich verhinderte, dass seine Orthografie fehlerfrei und die Rechenergebnisse richtig werden konnten.

      Irmi kam mit dem ihr eigenen Aufwand, kurz bevor Käthe Willi endlich aus der Tür zog, vorbei und spuckte ihm auf den Kopf, sagte dazu „Toi-toi-toi“ und streichelte ihm dann die Locken aus der Stirn. Sie rannten im Schweinsgalopp hin zur Schule und Käthe kniete sich vor ihren Sohn, bevor sie ihn zu den anderen Kindern ließ, streichelte über die angeklebten Haare und sagte: „Das meiste, was du dort hörst, wird dich interessieren. Wenn dir etwas nicht gefällt, versuch, es nicht so ernst zu nehmen. Vor allem, denk dran, die Schule ist nie wichtiger als wir, dein Papa und deine Mama und dein Zuhause.“

      Sie dachte verzweifelt darüber nach, ob sie irgendeinen wichtigen Gedanken vergessen hatte, denn sie bekam eine Gänsehaut angesichts der Tatsache, dass das nun ein historischer Augenblick im Leben ihres Sohnes war, von dem viel für seine Zukunft abhängen würde. Und insgeheim wusste sie, dass sie gerade geschwindelt hatte. Wie wichtig ist die Schule für das ganze Leben. Und um wie viel mehr Zeit würde er dort verbringen als zusammen mit seinen Eltern.

      14

      Da Willi es nicht gewöhnt war, sich mit einer größeren Anzahl Gleichaltriger zu vergnügen, wurde er nur wenig abgelenkt durch die Dummheiten seiner Klassenkameraden und wandte einen Großteil seiner Aufmerksamkeit dem Herrn Lauble zu, seinem Klassenlehrer.

      Herr Lauble war eigentlich Musiker, sowohl ausgebildeter Organist als auch ein sehr guter Geiger. Er verfügte über einen angenehmen Bariton und Sang und Klang bedeuteten ihm ebenso viel wie die Luft zum Atmen. Jeder Schultag begann und endete mit einem Lied. Einfache Weisen, die er die Kinder zuerst nur summen ließ. „Im schönsten Wiesengrunde liegt meiner Heimat Haus“ stimmten sie zusammen an. Mit den Händen sollten sie die Veränderungen der Tonhöhe darstellen, mit den Füßen dazu den Takt schlagen, eine akrobatische Leistung, die nur wenigen von Anfang an gelang. Aber immerhin ließen sie sich darauf ein, es zu probieren, und somit erzeugte Herr Lauble ganz ungezwungen Konzentration, wo sein Kollege Achenbach schon am ersten Tag den Stock zückte. Herr Lehrer Lauble beschäftigte die klugen, fleißigen Schüler mit Aufgaben, denen sie gerade eben gewachsen waren, und widmete sich dann verstärkt denjenigen, die wohl nie mehr als ihren Namen und ihre Adresse würden schreiben können. Er lobte viel, sein schlimmster Tadel war ein verkniffener Mund, ein lippenloses Verbeißen seiner Enttäuschung und seines Unmutes über das, was nicht gelingen wollte oder konnte. Während des Unterrichtens ging er beständig zwischen den Reihen und Bänken auf und ab, brachte sich so in einen direkten persönlichen Bezug zu jedem einzelnen Kind, sprach es unmittelbar an, sodass es sich ernst genommen und in eine persönliche Verantwortung hineingezogen fühlte.

      Mit weniger Worten gesagt, er war ein pädagogisches Naturtalent und ein ausgeglichener, optimistischer Mensch. Sein einziger Schwachpunkt war die Tatsache, dass er vor jedem Eintrag in das Klassenbuch den kopiersicheren Stift an die Zunge führte, damit, was er schrieb, in schönem glänzenden Violett erstrahlte und nicht fadenscheinig gräulich daher käme. So bekam er bis zum Ende des Vormittags eine tief dunkelblaue Zunge, was ihn dem geheimen Spott seiner Schüler aussetzte. Der kleine Friedrich Mager, der schräg hinter Willi saß, kicherte