Petra Häußer

Ein herrliches Vergessen


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Kriegsinvaliden, die Tränen der Mütter, Frauen, Schwestern, Töchter, all das scherte den kleinen Buben nicht. Es beunruhigte ihn auch nicht, dass die Menschen, die er alle vier gleich lieb hatte, obwohl sie so unterschiedlich viel Zeit mit ihm verbrachten, ähnlich wie die Herren im Eisenbahnwagen in Compiègne stundenlang hinter verschlossenen Türen redeten und redeten, dabei rote Ohren bekamen und Tränen in die Augen, weil dort sein weiteres Schicksal verhandelt wurde. Käthe litt dabei am meisten. Sie fühlte sich eingeklemmt zwischen der Forderung ihres Mannes, sie an seiner Seite zu haben und ihrem eigenen Bedürfnis, ihrem Kind nah zu sein, das – so viel war auch ihr klar – im Augenblick in der Obhut von Mine besser untergebracht war als irgendwo sonst. Was Käthe im Herzen stecken blieb wie ein vergifteter Pfeil, war die Erkenntnis, dass Georg das Kind „mitlaufen“ lassen wollte.

      „Das ergibt sich schon“, behauptete er.

      Wie soll sich das ergeben? Ergeben. Ein sprechender Begriff. Sich ergeben heißt, den eigenen Willen aufgeben, ihn beugen unter den der anderen, unter die Umstände, unter etwas, was den sich Ergebenden drücken würde, erdrücken oder zerquetschen könnte.

      Wenn man die feinen Hemdchen sah, die Käthe ihrem Sohn selbst genäht hatte, mit aufgesticktem Monogramm, einem geschwungenen W und einem in das W hineinverflochtenen H, wenn man die blank gewichsten dunkelroten Lederstiefelchen sah, die knielangen Samthosen, das schulterlange flachsblonde Haar, man hätte denken können, man habe einen kleinen Prinzen vor sich. Viele Abende verbrachte Käthe sitzend auf ihrem Bett, todmüde, bei jedem Nadelstich dachte sie an den Kleinen und ließ all seine Schlauheiten Revue passieren, die sie in den wenigen Stunden mitbekam, wenn sie ihn besuchte, oder die sie immer wieder aus Mines Briefen herauslas, Wort für Wort. So kam es dazu, dass sie ihn weggab, hinüber an den See, wohin Mine und Madame Ponard bald schon zogen und wohin Friedrich ihnen fast umgehend folgte.

      10

      Seinen vierten Geburtstag verbrachte Willi in dem sehr schönen Haus am Hang mitten zwischen Weinreben gelegen, er saß neben Herrn Regelmanns Rollstuhl und las dem alten Mann aus seinem Bilderbuch vor oder tat jedenfalls so, indem er alles, was er sah, in Wörter und Sätze verwandelte. Herr Regelmann fühlte sich gut unterhalten und Willi war unter Aufsicht in den Stunden, die sowohl seine Mamamine, wie er sie inzwischen nannte, als auch die anderen beiden Frauen im Laden rund zwanzig Gehminuten vom Haus entfernt, zu tun hatten. Amalie, die Haushälterin der Regelmanns, selbst eine fünffache Großmutter, hatte keine Mühe damit, neben Herrn Regelmann auch den kleinen, sehr braven und anhänglichen Pflegesohn der Frau Frei mit zu beaufsichtigen, der ihr bisweilen auf Schritt und Tritt folgte und ihr Löcher in den Kopf fragte.

      So vergingen zwei weitere Jahre seines Lebens. Während in Deutschland Tumult tobte, die Sozis mit den Kommunisten stritten und eine Zentrale Mitte verzweifelt sich mühte, den Kahn wieder ins ruhigere Wasser zu manövrieren, lernte Willi, sich die Schnürsenkel selbst zu binden, er malte die ersten Kopffüßler, benannte die Tiere im Garten, den Hahn, die Hühner, die Zwerghasen, die Bienen, die Wespen, die Amseln, Raben und Tauben; dem kleinen Chouchou warf er Stöckchen und lehrte ihn die Zeitung zu Herrn Regelmann hinaufzutragen, der sie dann mit seligem Lächeln eine Weile in der gesunden Hand hielt, so als ob er sie jeden Moment aufschlagen und lesen wollte.

      Mine schrieb Briefe nach Badenweiler, legte Zeichnungen und mit einem Seidenband zusammengehaltene Löckchen bei. Käthe freute sich, wenn alles bei ihr eintraf, aber manchmal dauerte es ein, zwei Tage, bis Georg Zeit hatte, darauf zu schauen. Dass er nichts sagte, wenn er diese Briefe las, dass er die Löckchen zur Seite legte, mochte seine Art sein, den Trennungsschmerz zu verdrängen.

      Ein paar Briefe kamen auch zurück, öfter mal eine schöne Postkarte, da stand nur Kuss von Mama und Papa drauf, weil Willi das schon lesen konnte, wie er es nannte. Aber in keinem der Briefe konnte Käthe erzählen, was sie der Freundin vielleicht zugeflüstert hätte, wenn sie noch in der Nähe gewesen wäre. Dass es ihr eine Woche lang schlecht gegangen war. Sie war hinüber über den Rhein gefahren, nicht ganz ungefährlich zu dieser Zeit, hatte die Pannier bitten müssen, ihr zu helfen. Die schüttelte den Kopf und hielt ihr eine Standpauke.

      „Jamais, jamais je ne le ferais encore une fois, tu entends, toi?“, hatte sie mit zischender Stimme geflüstert und ihr dann genaue Anweisungen gegeben, was sie tun müsse, damit sie nicht mehr in eine solche Situation käme. Käthe hatte diese Entscheidung vollkommen allein getroffen. Sie hatte Georg nur gebeten, ihr das Geld zu geben. Es aus den Ersparnissen herauszunehmen. Und dann gab es kein weiteres Wort darüber. Danach dauerte es lange, bis er sie wieder anfassen wollte. Als sie endlich wieder einmal Arm in Arm müde beieinanderlagen, spürte Käthe plötzlich etwas Nasses an ihrer Wange. Sie drehte den Kopf und sah, dass ihm Tränen übers Gesicht liefen.

      „Ich hätte gar nicht heiraten dürfen“, sagte er.

      „Meinst du das wirklich, Georg? Oder was meinst du eigentlich? Wir hätten keine Kinder haben dürfen? Auch ihn nicht?“

      Ihr Mann blieb stumm und regte sich nicht.

      „Ich liebe ihn sehr. Er ist mir sehr, sehr wichtig.“

      „Wichtiger als ich, das weiß ich.“

      Jetzt blieb sie stumm.

      Beim nächsten Besuch fuhr er mit an den See. Ohne Erklärung. Hatte sogar eine kleine bunt bemalte Holzeisenbahn und einen Kreis Holzschienen besorgt aus seinem Heimatdorf. Setzte sich auf den Boden und verbrachte dort einen ganzen Nachmittag zu Füßen des staunenden Herrn Regelmann zusammen mit dem glückseligen Willi, während Käthe für alle Maultaschen mit Fleisch füllte und in der Brühe kochte, dazu Zwiebelringe in Butter dünstete, Petersilienzweige ins schwimmende Fett tauchte und das starre Sträußchen zwischen die zu einem Berg aufgehäuften Teigtaschen steckte. Das war einer der glücklichsten Tage in Käthes Leben. Viele Male würde sie ihn sich ins Gedächtnis rufen, wenn schwere Sorgen sie davon abhielten in den Schlaf zu fallen.

      11

      Der fünfjährige Willi fühlte sich wohl im gemütlichen alten Haus in den Weinbergen über dem Bodensee, das der Familie Regelmann gehörte. Familie Regelmann bestand aus dem halbseitig gelähmten Herrn Regelmann und seiner Frau, Mine und Fried Frei, Mines Mutter, Madame Ponard, und der Haushälterin, Frau Amalie Köhler, die nun während der Woche oben unterm Dach in einem eigenen Zimmer wohnte. Mitten zwischen ihnen allen befand sich Willi in einer Prinz-auf-der-Erbse-Situation. Sein Selbstwertgefühl war stark und unerschütterlich, denn viele Male am Tag wurde er gelobt, selten wurde er ermahnt. Die Tadel, die strengen Blicke, gerunzelten Stirnen lösten, wenn sie ihn trafen, Unbehagen bei ihm aus, sodass er sich bemühte, solche Spannungen schnell wieder zu beheben, indem er genau das tat, was man von ihm erwartete. Vordergründig jedenfalls. Ohne Freude daran, gar mit Widerwillen, aber gerade das waren die lehrreichsten Momente, wenn er nämlich spürte, wie gut er das konnte: etwas tun, was ihm nicht gefiel, weil es andere für richtig hielten. Er musste nicht immer mit dem Kopf durch die Wand. Mit seinem verträumten Blick saß er da, klein und zierlich, hellblond, fein gekleidet, und wartete einfach auf die Lücken in der Zeit, die sich von selbst ergaben, in die er hineinschlüpfen konnte und damit raus aus dem Korsett, das die Großen ihm anlegten.

      Wenn die Frauen weg waren, Amalie beschäftigt und Herr Regelmann in eines seiner vielen täglichen Schläfchen versunken war, dann schlich Willi sich hinaus in den großen Garten. Dann kam die Stunde, die er allein regierte. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, nahm er das terrassenförmige Grundstück in Besitz. Er bewegte sich in größer werdenden Kreisen weg vom Haus bis an die Ränder des Gartens, die von dicken Haselnussbüschen gesäumt waren. Er öffnete das Gatter zum Hühnerstall, tappte durch den matschigen, rutschigen grüngrauen Kot der Hühner, versuchte sie zu packen und musste den Kopf schütteln angesichts ihres hektischen Aufflatterns und ängstlichen Kreischens, all ihrer Anstrengungen, ihm zu entkommen. Warum nur wollten sie nicht mit ihm spielen? Er hatte ihnen doch Haferflocken mitgebracht, stibitzt aus Amalies Schrank. Sorgfältig schloss er das Gatter wieder hinter sich, nachdem er sich genug über die Sturheit der Hennen und das aufgeplusterte Gehabe des Hahnes gewundert hatte. Diese dummen Hennen waren kein Ersatz für Chouchou, der inzwischen in den „Hundehimmel“ geflogen war, irgendwann nachts, Willi hätte das gerne gesehen, einen fliegenden Hund. Leider hatte er es verpasst und in ihm blieb eine tiefe