Petra Häußer

Ein herrliches Vergessen


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er zu grinsen begann und einen anerkennenden Lacher ausstieß. Pfiffig, dieser Friedrich, dachte er.

      Wenige Tage darauf fehlte Willis Tischnachbar Adalbert. Da drehte er sich zu Friedrich um, ruckelte einladend mit dem Kopf und Friedrich schnappte sich seine Schiefertafel, das Säckchen mit den Kreiden, der Fibel und seinem Pausenbrot, kletterte über den Tisch und ließ sich neben Willi in die Bank gleiten. So fanden die zwei zusammen, die ohnehin am Rand standen. Willi, der hier nicht geboren war, und Friedrich, von dem man nur wusste, dass er samstags nie in die Schule kam, weil er da beten musste. Beide waren anders und in ihrer Andersartigkeit möglicherweise schwächer als die anderen. Beide wurden häufig von Herrn Lauble wegen ihrer schönen Schrift und der gewissenhaft ausgeführten Hausaufgaben laut gelobt. Das Unbehagen über dieses Herausheben aus der Masse ertrugen sie besser zu zweit.

      So waren sie auch zu zweit, als sich der Unmut der anderen Klassenkameraden ballte und eine Horde von fünf oder sechs Burschen ihnen auf dem Nachhauseweg nachschlich. Der Überfall kam plötzlich an einer unbelebten Straßenecke. Friedrich lag schnell am Boden und blutete heftig. Willi wurde von einer brennenden Wut erfüllt. Er stürzte sich auf die Angreifer, sodass sie sich von Friedrich abwandten und ihn in die Mangel nahmen. Er biss in alles, was in die Nähe seiner Zähne kam, kratzte, stieß mit Fäusten und Füßen, schrie dabei wie eine Hyäne.

      „Wie eine Hyäne habe ich geschrillt“, erklärte er später, als er neben Friedrich auf einem Hocker in der Hotelküche saß und sich von seiner Mutter das Blut aus dem Gesicht wischen ließ.

      „Geschrien, Willi, es heißt geschrien“, warf Imogen ein, die sich gleichzeitig um Friedrichs Blessuren kümmerte.

      „Auweia, das wird noch lang zu sehen sein“, sagte sie, als sie ein kaltes nasses Handtuch auf Friedrichs Schläfe drückte.

      „Du bist tapfer wie Prinz Eisenherz, weißt du das“, liebevoll strich Imogen Friedrich eine blutige Haarsträhne aus der Stirn.

      Da kam plötzlich Georg in die Küche gestürmt.

      „Was ist denn hier los? Ist das ein Lazarett? Raus hier aus der Küche.“

      Mit flinken Fingern packten die beiden Frauen die kleine Waschschüssel, die Tücher, die Salbentiegel und bedeuteten den Buben mit einem Kopfnicken, sie sollten ihnen folgen. Käthes Lippen waren fest aufeinandergepresst, man konnte sie fast nicht mehr sehen.

      Draußen im dunklen Gang wurde der Samariterdienst fortgesetzt. Dann holte Käthe zwei schöne dicke Krapfen aus der Küche und hielt sie den Buben hin.

      „Es hat mich gefreut, dass ich jetzt den Friedrich auch mal kennengelernt habe. Du bist also dem Willi sein Freund?“

      Friedrich nickte mit vollem Mund und dann sahen die beiden Buben einander an und grinsten.

      Am Abend kam der Vater in Willis Zimmer und hielt ihm eine lange zornige Rede. Über die Küche, die ein heiliger Ort der Sauberkeit ist, die Keimzelle von „Gedeih und Verderb“, wie er es ausdrückte. Dass der Sohn des Maître d‘Hôtel und der Leiterin der Kaltküche, oder vielmehr vielleicht der Sohn eines zukünftigen Hotelbesitzers, das solle er sich nur mal merken, dahin strebten sie nämlich, die Mutter und er, und diesen Weg würden sie sich vom Sohn nicht vermasseln lassen, dass solch ein Bub besser wissen muss als alle anderen, was richtig und was falsch ist. Er solle sich gefälligst Respekt verschaffen bei seinen Klassenkameraden. Man lasse sich nicht blutig prügeln. Nicht sein Sohn. Beim nächsten Mal, wenn er verprügelt würde, bekäme er am Abend vom Vater noch was obendrauf, das würde ihn dann vielleicht lehren, so dazustehen, dass keiner es wage, ihn anzurühren. Willi wollte am liebsten weinen. Er sah den Rücken des Vaters stumm mit aufgerissenen Augen und fest aufeinandergepressten Lippen an, als er aus dem Zimmer ging. Da kam die Mutter. Sie nahm ihn in den Arm und erklärte ihm, der Vater meine es nur gut, aber er könne es eben nicht so richtig ausdrücken. Und ja, eigentlich solle sich ein Junge so wie er nicht mit den Gassenbuben prügeln. Das dürfe man erst gar nicht aufkommen lassen. Dann wiegte sie ihn hin und her, küsste ihn auf die Stirn und streichelte ihn, bis ihm die Augen zuzufallen drohten und er sich aus ihren Armen wegsträubte, um sich in sein weiches Kissen fallen lassen zu können. Bevor er einschlief, dachte er an Mamamine und Papafried und stellte sich vor, wie sie sich verhalten hätten in dieser Angelegenheit. Der Vergleich fiel nicht zu Gunsten seines Vaters aus.

      15

      Es gab wieder eine Routine, eine kleine Geborgenheit inmitten der Hektik des sich ständig wandelnden Hotelalltags. Morgens weckte ihn die Mutter und sagte: „Los, los, keine Müdigkeit vorschützen!“

      Er zog sich die Kleider an, die sie ihm irgendwann in der Nacht noch bereitgelegt hatte und griff sich seinen Ranzen, aus dem das Schwämmchen der Schiefertafel baumelte. Dann ging’s an der Hand der Mutter hinunter zum Hotel und dort in irgendein verborgenes Eckchen, wo er möglichst wenig störte, wo ihm aber ein schönes Frühstück aufgetischt wurde. Eine heiße Schokolade und ein duftendes warmes Hefehörnchen. Dann hatte er sich zu beschäftigen, bis es Zeit war für die Schule. Aber wenn es Zeit wäre zu gehen, war keiner da, der ihn daran erinnerte, und die Uhr konnte er noch nicht lesen. Also ging er los, wenn ihm langweilig war oder wenn er mit der Sache fertig war, mit der er sich beschäftigt hatte. Das war oft eine Zeichnung, die seine Konzentration in Anspruch nahm; er wollte sie richtig schön machen, stellte sich vor, wie Mutters Augen strahlten, wenn sie sie in den Händen halten würde, oder auch ein Bild für Herrn Regelmann, auf dem er Herrn Lauble mit blauer Zunge darstellte, in der erhobenen Hand hielt er sein Dirigentenstöckchen. Ach ja, Willi vermisste Herrn Regelmann sehr und er vermisste Helene, also malte er auch für sie ein Bild, das er in den Umschlag schmuggelte, in den Käthe ihren Brief an Mine und Fried steckte, bevor Willi ihn zum Briefkasten tragen durfte.

      Er kam zu früh oder zu spät zum Unterricht und lernte den Unterschied zwischen diesen beiden Situationen kennen. Erkenntnisse aber zog Friedrich aus Willis zeitweiligem Versagen. Er machte sich zur Regel, den Freund abzuholen. Kam herüber vom „Bellevue“, da gehörte er nämlich hin, war also ein richtiger „Kollege“, wie die Mutter es nannte, spazierte schnurstracks hinein ins Hotel wie ein feiner Herr und suchte seinen Freund, stupste ihn an und sagte: „Willi, kommst du, s’isch Zeit!“

      Willi erreichte von nun an den Unterricht immer pünktlich. Friedrich wurde von ihm Fritz genannt. Fritz behielt von ihrem ersten Kampf eine drei Zentimeter lange Narbe über der Augenbraue, das stellten die beiden an dem Tag fest, an dem sie begannen mit Zentimetern und Metern zu rechnen. Das war schon zwei Jahre später.

      Käthe hatte sich im Kurhotel gehalten, eine Saison nach der anderen. Georg ging dahin und dorthin. Zwischendurch auch immer wieder mal nach Baden-Baden, dort auch abends ins Casino, um sein Glück herauszufordern, aber auch hinüber nach Frankreich, um neue Weine auszusuchen zusammen mit dem Albert und mit Irmi, die eben beweglicher war als Käthe in jeglicher Hinsicht.

      Dann nahte der Sommer 1923 und Willi und Friedrich mussten sich trennen. Käthe, Georg und Albert hatten zusammen in Baden-Baden das „Krokodil“ übernommen. Gepachtet vorerst, mal sehen, wie es weitergeht. Ein Besitzerwechsel stand an, das hörte Willi, weil es immer wieder laut und leise und vor und hinter den Türen wiederholt wurde. Irmi war nicht mehr dabei. Dafür gab es jetzt Jenny. Albert hatte sie aus München mitgebracht, wo er den letzten Winter im Bayerischen Hof als Sommelier gearbeitet hatte.

      Albert erzählte eine aufregende Geschichte von der Revolution in München, wie die aufgebrachte Menge von Menschen marschiert war, die schöne prächtige Ludwigstraße entlang auf den Odeonsplatz zu, wo sich die Feldherrnhalle erhob. Wie dann geschossen wurde und ...

      „Warst du dabei, Onkel Albert?“, wollte Willi wissen.

      Nicht direkt, sagte Albert, aber fast. Jedenfalls kamen einige aufgeregte Männer die Straße entlanggelaufen und schrien laut: „Das ist noch nicht vorbei, die schießen noch!“

      „Und dann, Onkel Albert?“

      „Dann war sie zu Ende, die Revolution. Aus und vorbei. Festgenommen haben sie die Putschisten und ins Gefängnis gebracht. Jetzt ist wieder Ruh’ im Land Bayern.“ Aber trotzdem hatte Albert die Jenny gerettet vor der Revolution, indem er sie einfach mitgenommen hatte hierher ins schöne