Benjamin Markovits

Spieltage


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waren ihre Stimmen, die mich bei der Stange hielten, ihr leiser, mehrstimmiger Singsang, der meine eigene Kehle mit schmerzhaftem Mitgefühl belegte. Ihre Gebete waren anders als die, mit denen ich aufgewachsen war, weicher und mit mehr Zischlauten, und die Akzentuierung ihrer Gesänge wirkte älter und weniger musikalisch. Dennoch kam mir die blinde Dringlichkeit ihres Gesangs, der nicht einmal richtiger Gesang war, ziemlich vertraut vor. Die Sonntagsschule, in die ich gegangen bin, bis der Unterricht mit der Footballsaison kollidierte, behandelte das Hebräische wie eine Sprache, die man nachspricht, aber nicht wirklich verstehen muss. Ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass die Männer, die da vor und zurück ruckelten, Hebräisch sprechen konnten, nur waren die Wörter, die sie sangen, zu etwas zerfallen, das grundlegender war als die Bedeutung: zu Tönen und Rhythmen.

      Damals, am Ende der Pre-Season, tat mir alles weh, auch mein Herz – ich hatte Heimweh und das Gefühl zu versagen. Die Erschöpfung machte mich sentimental, und ich fing an zu weinen.

      Niemand bemerkte es. Eine Gemeinde wie diese hatte sicher ausreichend Gründe zu trauern; Tränen waren hier nichts, über das man sich wunderte. Der Holocaust war mir in meiner amerikanischen Kindheit immer wie ein Symbol für etwas Entsetzliches vorgekommen: sowohl für das Böse, zu dem Menschen fähig waren, als auch für das Leid, das andere ertragen konnten. Als Symbol war er schon immer machtvoll gewesen. Doch jetzt nahm ich ihn zum ersten Mal als Tatsache wahr, was ihn noch viel schlimmer werden ließ.

      Die Männer vor mir waren zum Großteil Überlebende; am Ende des Zweiten Weltkriegs waren sie ungefähr so alt wie ich jetzt. Ihre Eltern hatten vielleicht meine Urgroßeltern gekannt – hatten ihnen vielleicht abgeraten, nach New York auszuwandern. München hatte früher eine große und sehr aktive jüdische Gemeinde, aber die meisten Synagogen wurden gemeinsam mit den Juden, die darin gebetet hatten, während des Krieges eliminiert. Dieser provisorische Tempel war in der Nachkriegszeit aus einem Wohnblock herausgehauen worden, schnell errichtet in der Lücke, die eine Bombe gerissen hatte, zwischen den höheren, älteren und ansehnlicheren Häusern ringsum. Die erste und zweite Etage waren entfernt worden. Übrig war davon nur eine schmale Galerie, die über drei Wände verlief. Dort beteten die Frauen. Erst als ich mich endlich hinsetzen konnte, bemerkte ich, wie sie sich vorbeugten und hinuntersahen.

      Vermutlich waren die Männer genauso unterschiedlich wie in jeder anderen Gruppe alter Männer, aber auf mich wirkten sie fast durchgehend klein und eher dicklich. Es war irgendwie erholsam, nach einer Woche der körperlichen Vervollkommnung ein oder zwei Stunden unter Leuten zu sein, die ihre eigenen Sonderlichkeiten akzeptiert hatten. Davon abgesehen wollte ich die Gebete gar nicht verstehen; die Unverständlichkeit war Teil ihres Charmes. Wir beugten und bückten uns, riefen laut und murmelten vor uns hin. Sport ist die Kunst, im Grunde bedeutungslose, kleine Handlungen durchzuführen: Mir gefiel die Vorstellung von einem Gott, der von seinem Volk etwas Ähnliches forderte.

      Es war genau diese Vorstellung eines göttlichen Herrschers über eine aussterbende Gemeinde, die sich bei mir in jedem Gottesdienst herausbildete und mich immer wiederkehren ließ. Er war nicht an Erfolg interessiert. (Es war schwer, ihn sich angesichts der nach oben verbannten Frauen nicht als einen «er» vorzustellen.) Unglück und Verlieren gehörten genauso zu seinen Schöpfungen. Er mischte sich nicht ein. Die Branche, in der ich mich bewegte, basierte auf Prozenten und Wahrscheinlichkeiten, aber noch nie wurde mir wie hier – durch die Männer, die überlebt hatten, um irgendwann diesen Sabbat zu begehen – so lebhaft vor Augen geführt, welch furchtbare Macht der Faktor Zufall ausübt.

      Natürlich ist es nur die Einsamkeit, die hier spricht. Einsamkeit neigt zur Theorienbildung. In Wahrheit war dies ein Ort, an den ich gehen konnte, um mich in einer fremden Stadt am Freitagabend zu Menschen zu setzen, die mir vertraut vorkamen und die mich akzeptierten. Ich behielt (oder stahl) die Kippa, die ich bekommen hatte, und nahm mir vor, sie bei der nächsten Zugfahrt nach München einzustecken, für alle Fälle.

      Olafs Eltern lebten auch in Schwabing, und jetzt überlegte ich, ob vor dem Abendessen noch Zeit war, den Gottesdienst zu besuchen. Was mich überraschte, war die leichte Enttäuschung, die der Gedanke, ihn auslassen zu müssen, bei mir auslöste. Ich hatte das weiche Lederkäppchen aus der Tasche gezogen und fing an, es in der Hand zu kneten.

      Auf der Strecke hielt der Zug an diversen Bahnhöfen: Junge Bauern aus Bruckberg oder Langenbach stiegen ein. Eine Freitagabendmeute war unterwegs in die Stadt, mit sauberen Jeans und zugeknöpften Hemden; ein paar hatten bereits große Bierdosen geöffnet. Ich fühlte mich zunehmend unsicher, unterdrückte aber hartnäckig den Impuls, die Kippa wieder in die Tasche zu stecken. Gut möglich, dass sie den falschen Eindruck erweckte, nämlich den eines Juden, der normalerweise eine aufhatte, nur war nicht das der Gedanke, der mir leichtes Unbehagen bereitete.

      Nicht dass ich in Deutschland je Antisemitismus erlebt hätte. Die Deutschen, die ich kannte, waren von der Vergangenheit ihrer Eltern viel zu betroffen, als dass sie Juden auch nur für existent gehalten hätten – ich meine als Gruppe mit besonderen Merkmalen. «Wir sind alle gleich» war die Lektion, die sie pflichtschuldig verinnerlicht hatten. Aber die Deutschen, die ich kannte, stammten alle aus dem Norden und aus der Mittelschicht. Ich war mir also nicht sicher, ob bayrische Bauern da eine größere Neugier an den Tag legen würden. Gleichzeitig kam es mir wie der Maßstab meiner Einsamkeit vor, dass ich auf Fantasien wie diese so viele Gedanken verschwenden konnte. Und nicht einmal nur Gedanken: Ich prüfte mit Blicken, ob vielleicht jemand zu mir hersah.

      Natürlich tat das niemand; doch dann schenkte mir eine junge Frau, die in Fahrtrichtung auf der anderen Seite des Gangs saß, ein freundliches Lächeln. Erneut war mein erster Impuls, die Kippa wegzupacken. Nur kam sie mir irgendwie bekannt vor. Sie trug ihren kleinen Kopf sehr selbstbewusst auf einem langen Hals, hatte Sommersprossen, strohblondes Haar und blaue, unerschrockene Augen.

      In dem Moment, als ich sie erkannte und vor Verlegenheit rot anlief, beugte sie sich zu mir und fragte: «Kennen wir uns vielleicht? Ich versuche schon seit Gündlkofen, deinen Blick zu ergattern.»

      Sie war die Frau im Fenster, und mir wurde ganz heiß bei dem Gedanken, dass sie mein Spionieren womöglich mitbekommen hatte. «Ich glaube nicht, dass wir uns kennen», sagte ich. «Zumindest nicht persönlich.»

      Diese Unsicherheit begleitete mich das ganze Gespräch hindurch: ob sie vielleicht wusste, dass ich ihr manchmal beim Zubettgehen zusah. Es gibt Mädchen, die sich durch eine solche Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlen, die finden, sie hätten sie verdient. Es lag nicht unbedingt an ihr, dass ich sie für genau so ein Mädchen hielt. Sie wirkte sehr selbstbewusst, auch bezüglich ihres Aussehens, und behandelte mich mit einer ironischen Herablassung, die vermuten ließ, dass sie mein Geheimnis kannte. Aber diesen Eindruck vermitteln schöne Mädchen oft. Es gibt ein Geheimnis, das sie nicht erst groß erraten müssen, dass nämlich junge Männer, wie heimlich auch immer, sie attraktiv finden.

      «Heißt das, du bist berühmt?», fragte sie mit einem Lächeln. Neben ihr war ein Platz frei, und auf den klopfte sie jetzt, leicht ungeduldig, wie mir schien. «Willst du mir das sagen? Habe ich dich vielleicht schon mal im Fernsehen gesehen?»

      Sie will mich aufziehen, dachte ich, deshalb sagte ich: «Das noch nicht, aber vielleicht in der Zeitung.»

      Sie schlug die Hände zusammen. «Meinst du vielleicht das Bauernblatt? Bei denen im Haus arbeite ich.»

      «Ja, vermutlich meine ich das.»

      «Aber mir scheint, ich kenne dich doch etwas … persönlicher.» Und nach einer kurzen Pause: «Wohnst du im Kardinger Weg, in einem dieser Blocks?» Es war grausam von ihr, mich so zu necken, wenn sie es wusste, aber sie machte weiter. «Das ist es wahrscheinlich. Ich wohne nämlich auch dort. Wir sind Nachbarn.» Etwas linkisch streckte sie mir quer über den Gang die Hand entgegen. «Ich heiße Anke.»

      Um sie zu schütteln, musste ich aufstehen, und im Anschluss schien es genauso einfach, mich neben sie zu setzen, wie zurück an meinen Platz zu gehen. Sie hatte die Kippa in meiner anderen Hand bemerkt und nahm sie mir weg, wobei mich diese Aktion erst ärgerte, als sie sie aufsetzte. Die Anmaßung schöner Mädchen kann ziemlich nervtötend sein.

      «Auf dem Heimweg funktioniert das sicher besser», sagte sie. «Dann sind meine Haare kürzer.