Roland Lange

Harzkinder


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und wieder verkauft, was in der Welt draußen vor der Tür schon nach kurzer Zeit als überholt und unbrauchbar galt und entsorgt wurde. Das Sammelsurium um sie herum weckte plötzlich einen sentimentalen Gedanken an die DDR in ihr. Sie schluckte, wollte keine Erinnerungen zulassen, heftete ihren Blick an eine Spieluhr, die wie ein Fremdkörper zwischen all den anderen Sachen wirkte. Neugierig betrachtete sie das Kleinod, spielte für einen Moment mit dem Gedanken, die Uhr zu kaufen. Sie war nicht teuer. Dann wandte sie sich ab, sah zum Vorhang an der rückwärtigen Wand. Noch immer war niemand aufgetaucht. Gab es nirgendwo eine Klingel? Hatte überhaupt jemand ihr Kommen bemerkt?

      „Hallo!“, rief sie, und gleich darauf noch einmal: „Hallo, ist da jemand?“

      Nichts passierte. Die Spieluhr zog sie wieder in ihren Bann.

      „Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten.“ Hanka fuhr erschrocken herum. Ein Mann tauchte aus einem Raum hinter dem Vorhang auf. „Ich habe gerade eine Platine zusammengelötet. Das konnte ich nicht einfach unterbrechen.“

      Er steuerte auf sie zu, deutete auf die Spieluhr. „Ein wirklich schönes Stück, nicht wahr? Und gar nicht teuer. Ich kann Sie Ihnen gern einmal vorführen.“

      „Äh ja ... nein, nein, ich ...“ Hanka räusperte sich. „Ich bin nicht wegen der Spieluhr ... also, ich möchte nichts kaufen oder reparieren lassen.“

      „Sondern? Haben Sie etwas zu verkaufen?“

      „Das auch nicht. Ich suche einen Privatdetektiv, der hier sein Büro haben soll. Stefan Blume. Wissen Sie, wo ich den finde?“

      Der Mann zog ein wenig die Augenbrauen hoch, blickte Hanka aus freundlichen braunen Augen an. Sie ahnte seine Überraschung mehr, als dass sie sich in seinem von einem eisgrauen Vollbart eingerahmten Gesicht bemerkbar machte. Seine Mimik wirkte eigenartig starr.

      „Tut mir leid“, sagte er dann, „ich kenne keinen Privatdetektiv namens Stefan Blume.“

      „Aber er müsste hier irgendwo sein Büro haben. Sehen Sie, ich habe es mir aufgeschrieben.“ Sie hielt ihm den Zettel mit der Adresse hin. „Vielleicht habe ich mich ja nur in der Hausnummer vertan.“

      Der Mann fuhr sich mit der Hand durch die dichten Haare, die ebenso grau waren wie sein Bart. „Wie ich schon sagte, ein Privatdetektiv Stefan Blume ist mir nicht bekannt.“ Er versuchte ein Lächeln. Es gelang ihm jedoch nur im Ansatz, verfing sich irgendwo in seinem starren Gesicht. „Wer hat Sie denn auf die Idee gebracht, hier so jemanden finden zu können?“

      „Meine Tochter“, entgegnete Hanka. „Sie hat mir die Adresse gegeben. Ich ...“

      „Tatsächlich?“, fiel ihr der Mann ins Wort. „Na ja, nichts für ungut. Vielleicht möchten Sie die Spieluhr ja doch ... Ich kann Ihnen auf den Preis noch einen kleinen Nachlass geben. Dann haben Sie den Weg wenigstens nicht ganz umsonst gemacht. Sie kommen nicht aus Hannover, vermute ich.“

      „Sieht man mir das an?“ Hanka grinste verlegen, winkte ab. „Lassen Sie mal. Zugegeben, die Uhr ist schön, aber einen weiteren Staubfänger kann ich zu Hause nicht gebrauchen. Vielen Dank.“ Sie ging zur Tür. „Ich verschwinde besser wieder. Entschuldigen Sie die Störung. Auf Wiedersehen.“

      „Keine Ursache“, rief der Mann ihr nach.

      Auf halbem Weg zur S-Bahn-Haltestelle blieb Hanka stehen. Hatte sie den Weg nach Hannover wirklich umsonst gemacht? Hatte sich Kerstin mit der Adresse vertan? Sie vielleicht sogar bewusst in die Irre geführt? Nein, bei allem, was sie in der Vergangenheit auseinandergetrieben hatte und das bei ihrem Zusammentreffen gestern wieder hochgekommen war, so niederträchtig wäre Kerstin nie gewesen. Vielleicht ermittelte dieser Stefan Blume ja längst nicht mehr. Oder er war umgezogen. Möglicherweise war er auch tot. Seit dem Tag, als Kerstin den Mann das erste Mal ins Spiel gebracht hatte, waren einige Jahre vergangen.

      Hanka hatte die Haltestelle erreicht, zögerte jedoch, in die einfahrende S-Bahn einzusteigen. Sie trat vom Bahnsteig zurück, zog ihr Handy aus der Tasche, wählte Kers­tins Nummer. Es war nur ein kurzes Gespräch, dann setzte sie sich auf eine der Bänke an der Haltestelle und wartete. Etwa zehn Minuten dauerte es, bis Kerstin sie zurückrief. Sie solle noch einmal in den Laden gehen, dem Mann erklären, wer sie an ihn vermittelt hatte. Sie solle ihm den Namen ihres Bekannten nennen: Daniel Kettler. Das würde helfen.

      Dieses Mal musste sie nicht warten, bis der Mann wieder hinter seinem Vorhang hervortrat.

      „Sie?“, rief er verwundert aus. „Haben Sie sich das mit der Spieluhr doch noch mal überlegt?“

      „Nein, ich ...“ Sie trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. „Ich bin zurückgekommen wegen Stefan Blume, dem Privatdetektiv.“

      Der Mann schnaubte ungehalten. „Hören Sie, ich wiederhole mich ungern, aber ...“

      „Ich weiß“, unterbrach Hanka ihn. „Es ist nur so, ich habe meine Tochter angerufen und sie meinte, ich soll Ihnen den Namen Daniel Kettler nennen. Dann würden Sie schon verstehen.“

      Der Mann erwiderte nichts. Er starrte sie nur mit seinen braunen Augen an. In seinem Gesicht keine Regung. Es schien, als wolle er Hanka mit seinem Blick durchdringen. Unmöglich, zu erkennen, was sich hinter seiner Stirn abspielte. Sie wurde nervös, spürte, wie sich ihr Hals zuzog.

      „Kommen Sie“, sagte der Mann plötzlich und ging ihr voran zum Vorhang. Hanka folgte ihm in den Raum dahinter.

      Eine vollgestopfte Werkstatt tat sich vor ihr auf. Mattes Licht aus einer Leuchtstoffröhre unter der Decke erhellte den Raum nur notdürftig. Die Tischlampe auf der Werkbank zu ihrer Rechten ergoss dafür umso helleres Licht über die Arbeitsplatte. Werkzeuge, wohin man sah. Dazu die reparaturbedürftigen Elektrogeräte, teils geöffnet, sodass man ihr Inneres erkennen konnte. Hinten, in einer Ecke des Raumes, zwischen all dem Gerümpel kaum zu sehen, stand ein weiterer Tisch. Darauf steuerte der Mann zu, bediente den Schalter einer Wandlampe und bot ihr an, sich auf einen der beiden Stühle zu setzen. Sie nahm Platz, er setzte sich zu ihr.

      „Daniel Kettler hat Ihnen also die Adresse verraten?“, fragte er.

      „Meiner Tochter. Er ist ein Freund von ihr. Und meine Tochter hat mir den Rat gegeben, Sie um Hilfe zu bitten. Sie sind doch Stefan Blume, der Privatdetektiv?“

      Er wiegte leicht den Kopf, sein Lächeln blieb erneut an seiner starren Gesichtsmaske hängen. „Ja, so heiße ich. Aber in erster Linie mache ich das, was Sie hier sehen. Ich repariere, kaufe und verkaufe Elektrogeräte, die sonst als Schrott auf einer Müllhalde gelandet wären. Die andere Sache, na ja, das ist eher ein Hobby von mir, wissen Sie? Nichts, das ich in die Welt hinausposaune. Ab und zu helfe ich mal jemandem, den ich kenne und dem ich vertraue. Wie Daniel Kettler. Und da er mich Ihnen empfohlen hat ... schön, dann erzählen Sie mal.“

      Hobbydetektiv? Hanka überkamen plötzlich Zweifel. Für so einen war ihre Sache vermutlich viel zu groß. Daran waren schon die Fachleute von Polizei und diversen Hilfsorganisationen gescheitert. Wenn dieser Stefan Blume nur ab und zu mal einer treulosen Ehefrau oder einem fremdgehenden Ehegatten hinterherspionierte, war das eine Sache. Aber ihren Sascha finden? Egal, es war ohnehin zu spät. Jetzt einen Rückzieher zu machen, wäre blamabel.

      „Ich suche meinen Sohn“, begann sie. „Er wird vermisst.“

      „Ihren Sohn, aha.“ Sie sah die Zweifel in Blumes Augen. „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich frage, aber wie alt sind Sie?“

      Hanka nannte ihm ihr Alter.

      „Fünfundsechzig. Schön. Und Ihr Sohn?“

      „Sascha ist zweiundvierzig.“

      „Also ein erwachsener Mann im besten Alter. Und er ist verschwunden, wenn ich Sie richtig verstehe. Was sagt denn die Polizei? Vielleicht ist er nur untergetaucht, weil er es so wollte. Oder ist er krank, geistig behindert vielleicht? Ist er verheiratet, hat er Kinder, oder lebt er allein? Wohnt er bei Ihnen zu Hause? Wie genau ist seine familiäre Situation?“

      So viele Fragen! Und es gab nur eine Antwort: „Ich weiß es nicht.“