Roland Lange

Harzkinder


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er vier Jahre alt war.“

      „Vier Jahre?“ Der Detektiv beugte sich ruckartig vor, kam ihrem Gesicht ganz nahe. „Entschuldigen Sie bitte, ich glaube, das verstehe ich jetzt nicht so ganz.“

      „Es war am zweiundzwanzigsten August neunzehnhundertachtzig“, begann Hanka. „Ein Freitag. Ich erinnere mich noch genau. Mein damaliger Mann und ich waren mit unseren Kindern in Urlaub, im FDGB-Heim ,Hermann Danz‘ in Friedrichroda. Es war unser vorletzter Urlaubstag. Wir haben eine Wanderung zur Wechmarer Hütte gemacht. Ein Ausflugslokal mitten im Wald ...“ Sie erzählte Blume von Saschas Verschwinden, ließ kein Detail unerwähnt. Sie konnte sich nach beinahe vierzig Jahren an jede Kleinigkeit erinnern. Als wäre es gestern geschehen. „Und vor ein paar Tagen habe ich ihn gesehen! In einem Supermarkt. In Elbingerode, im Harz“, sprang sie unvermittelt in die Gegenwart.

      „Moment, Moment.“ Blume hob abwehrend die Hände. „Ich will die ganze Geschichte hören. Schön der Reihe nach. Was ist in den Jahren dazwischen passiert? Was haben Sie unternommen?“

      „Oh, das ist eine ganze Menge. Wenn Sie alles hören wollen, dann dauert das.“

      „Egal. Ich habe Zeit.“

      Hanka sah ihn an. Auch wenn sein Gesicht keine Regung zeigte, so signalisierten zumindest seine Augen, dass er neugierig geworden war. Seine sonore Stimme und sein offensichtliches Interesse beruhigten sie wieder ein wenig, ließen die Anspannung weichen, die sich in den zurückliegenden Minuten in ihr aufgebaut hatte. Sie schilderte dem Detektiv ihren Leidensweg in den Jahren nach Saschas Verschwinden in allen Einzelheiten. Der Detektiv lauschte aufmerksam. Er ließ sie reden, unterbrach sie nicht.

      „Und jetzt glauben Sie also, ihn gesehen zu haben“, beendete Blume schließlich ihren Monolog. „Im Harz. Im Edeka-Markt in Elbingerode.“

      „Genau. Das sagte ich ja schon.“ Sie schilderte ihm das Zusammentreffen mit Sascha und wie sie ihn wieder aus den Augen verloren hatte.

      „Und allein dieser fehlende Finger hat Ihnen ausgereicht, um zu wissen, dass es sich um Ihren Sohn handelt?“

      „Vergessen Sie nicht seine Augen! So leuchtend blau habe ich sie noch nie bei jemandem gesehen.“

      „Trotzdem, ein bisschen wenig, um sich nach so langer Zeit gewiss zu sein, finden Sie nicht?“

      „Hören Sie, ich bin seine Mutter!“, entrüstete sich Hanka.

      „Schon gut. Ich verstehe“, beschwichtigte Blume. Dann sagte er nichts mehr, sah sie nur an, schien nachzudenken.

      „Was ist jetzt? Helfen Sie mir?“, fragte Hanka nach einigen Augenblicken ungeduldig.

      Blume seufzte, drückte sich gegen die Stuhllehne. „Also gut“, entgegnete er gedehnt, „ich werde versuchen, etwas über den Verbleib Ihres Sohnes herauszufinden. Wird nicht ganz leicht, allein mit Ihrer Beschreibung des Mannes aus dem Supermarkt.“

      „Hören Sie, am Geld soll es nicht scheitern, falls Sie darauf anspielen.“ Sie dachte an ihr über die Jahre Erspartes. Für ihre Verhältnisse eine mittlerweile beträchtliche Summe. Eigentlich hatte sie das Geld anders verwenden wollen. Aber ihre Pläne waren mit Rudolfs zunehmend schlechter werdendem Gesundheitszustand ohnehin zur Makulatur geworden. Was sollte ihr also noch wichtig sein, außer, dass sie Sascha wieder in die Arme schließen konnte?

      Später, als sie wieder in den Zug zurück nach Hause einstieg, hatte sie dem Detektiv einen Vorschuss in bar zurückgelassen und mit ihm weitere Treffen an noch zu bestimmenden Orten vereinbart, um dort über Ermittlungsergebnisse zu reden und, falls nötig, weitere Vorauszahlungen zu übergeben. Jetzt ruhte ihre ganze Hoffnung auf den Fähigkeiten des Mannes, der ihr so undurchdringlich erschienen war und der aus seiner Detektivtätigkeit ein ihr unerklärliches Geheimnis machte.

      Kurz nachdem der Zug aus dem Hauptbahnhof gerollt war, schlug Hanka die Tageszeitung auf, die sie sich am Bahnhofskiosk gekauft hatte. Ihr Blick fiel auf eine Nachricht, die sie vor Schreck erstarren ließ:

      Dietmar Knoche, der Leiter des Edeka-Marktes in El­bingerode war ermordet worden! Einen Tag, nachdem sie ihre Marmeladen bei ihm abgeliefert hatte und ihr Sascha über den Weg gelaufen war, hatte eine Angestellte seine Leiche gefunden – morgens, in seinem Büro. Knoche sei auf bestialische Weise umgebracht worden. Details zum Tathergang könne die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen zum jetzigen Zeitpunkt nicht preisgeben, hieß es in dem Zeitungsartikel und weiter, es gebe noch keine Erkenntnisse zu Täter und Motiv. Man ermittle in alle Richtungen.

      4. Kapitel

      Nachdem Hanka Altmann seinen Laden verlassen hatte, war Stefan Blume durch eine Tür in der Werkstatt verschwunden, von deren Existenz nur er allein wusste. Die kleine Butze, die sich hinter dieser Tür verbarg, war fensterlos und vollgestopft mit Computern und elektronischem Überwachungsgerät. Vier Monitore an der Wand links der Tür verschafften ihm einen genauen Überblick über alles, was sich auf der Straße vor seinem Laden abspielte und über jedermann, der seine Geschäftsräume betrat und sich darin umsah. Nichts, was sein unmittelbares und weitergehendes Umfeld betraf, blieb ihm verborgen. Über eine Konsole mit Aufnahmegeräten, Tastaturen und Steuersticks konnte er die Kameras dirigieren, die außen am Gebäude und in seinem Laden angebracht waren. Gut getarnt, war es Uneingeweihten kaum möglich, sie zu entdecken.

      Auch die Ankunft dieser Frau war Blume nicht verborgen geblieben. Er hatte ihr interessiert, aber ohne Argwohn zugesehen, wie sie sich unschlüssig umgeblickt und gezögert hatte, einzutreten. Das war typisch für viele seiner Kunden, die spätestens, wenn sie vor dem Schaufenster standen, eine gewisse Scheu entwickelten, hereinzukommen. Ein defektes Gerät reparieren zu lassen anstatt es wegzuwerfen, oder ein gebrauchtes zu erwerben, mochte ihnen in der Theorie reizvoll erschienen sein. Aber den Schritt tatsächlich zu tun, bedeutete möglicherweise, dass sie später als Verlierer wahrgenommen wurden, sich ihren Freunden und Bekannten gegenüber erklären mussten. Second-Hand-Artikel waren etwas für Menschen zweiter Klasse, die es sich nicht leisten konnten, jedes Jahr einen neuen Fernseher, ein Smartphone der neuesten Generation oder einen noch intelligenteren Kaffeevollautomaten zu kaufen.

      Erst als die Frau nach hinten über den Hof gegangen, dann die Außentreppe hinaufgestiegen war und versucht hatte, durch die Tür zu gelangen, waren Blume Zweifel an ihren Absichten gekommen. Bestimmt hatte sie etwas anderes erwartet, sicher kein Geschäft mit elektronischem Klüngelkram. Als sie kurz darauf in seinen Laden getreten war, hatte er bereits geahnt, nach wem sie suchte.

      Wenn jemand wie diese Frau dann tatsächlich nach dem Privatdetektiv Stefan Blume fragte, musste er vorsichtig sein. Nicht umsonst versteckte er seine Detektei hinter der Fassade eines unscheinbaren Elektroladens. Es gab genügend Gründe für ihn, sich die Leute genau anzusehen, die seine Dienste als Ermittler in Anspruch nehmen wollten. Und er hatte Hanka Altmann sehr gründlich in Augenschein genommen. Gut, ohne den Namen Daniel Kettler wäre die Detektei für sie auch bei ihrem zweiten Anlauf verschlossen geblieben. Wenn Daniel seine Adresse weitergab, dann nur an vertrauenswürdige Menschen. Dennoch, ein gewisses Restrisiko blieb immer und es war an ihm, es mit seiner Menschenkenntnis auszuschalten. Und darin war er richtig gut, war es schon immer gewesen – Menschen zu beobachten, ihnen zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen und am Ende zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Einer der Gründe, warum er noch lebte, davon war er überzeugt.

      Hanka Altmann war eine harmlose Frau, so viel stand für ihn fest. Eine Mutter, die seit einer halben Ewigkeit nach ihrem vermissten Sohn suchte. Sie hatte ihm eine Geschichte aufgetischt, so absurd, als sei sie einem fantasiebegabten, aber kranken Hirn entsprungen. Er hatte ihr trotzdem bis zum Ende zugehört. Und er glaubte ihr, weil er nur zu gut wusste, nichts von dem, was sie erlebt hatte, war erfunden. So etwas konnte sich ein normaler Mensch nicht ausdenken. Und mit genau diesem Wissen saß er jetzt da und stierte auf seine Monitore. Hanka Altmann hatte ihn in einen verdammten Zwiespalt gebracht.

      Ja, er hatte zugesagt, ihr zu helfen. Er hatte ihr Geld angenommen. Was aber nicht bedeutete, dass er den Auftrag, ihren Sohn zu finden, auch wirklich ausführen würde. Denn wenn er das tat, darüber war er sich im Klaren, dann musste er sich möglicherweise den alten Geistern stellen, seine Deckung, zumindest ein kleines