Roland Lange

Harzkinder


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Genug, um über seine nächsten Schritte nachzudenken. Vielleicht würde er einen Rückzieher machen, ihr einen Teil des Geldes zurückgeben, ihr zu verstehen geben, dass sie ihre Hoffnungen in einen unfähigen Mann gesetzt habe. Immer noch besser, als den eigenen Kopf zu riskieren. Andererseits, wollte er wirklich für den Rest seines Lebens weglaufen, ständig Angst haben müssen, dass sie ihn irgendwann enttarnten? Musste er das Auftauchen dieser Frau nicht vielleicht als Wink des Schicksals verstehen, selbst aktiv zu werden, anstatt das Heft des Handelns anderen zu überlassen?

      Blume seufzte und ließ das Geld in einem Wandtresor verschwinden. Das nächste Treffen mit Hanka Altmann würde nicht hier in seinem Laden stattfinden, sondern an einem Ort, den er noch bestimmen und ihr mitteilen würde. Sie selbst durfte sich nur im äußersten Notfall bei ihm melden, das hatte er ihr eindringlich klargemacht. Diese Art von Kommunikation ließ er ausschließlich über Handys mit Prepaidkarten laufen, von denen er etliche auf Vorrat hortete und die er beliebig wechseln konnte. Nichts war schlimmer, als in der digitalen Welt Spuren zu hinterlassen. Wenn jemand das wusste, dann er.

      Im Grunde war es ein einfacher Auftrag, den ihm Hanka Altmann erteilt hatte. Sie wollte nicht mehr von ihm, als dass er einen Mann ausfindig machte, der ihr in einem Supermarkt im Harz über den Weg gelaufen war. Und mit der Beschreibung und den hervorstechenden Merkmalen des Mannes – strahlend blaue Augen und ein fehlender Finger – konnte man durchaus etwas anfangen, auch wenn ihm lieber gewesen wäre, Hanka Altmann hätte ihm den Namen der Firma nennen können, für die der Mann arbeitete. Leider hatte sie dem Schriftzug auf dessen Overall und später auf dem Kastenwagen keine Beachtung geschenkt. Aber auch ohne dieses Detail hätte er den Job relativ schnell erledigen können. Doch das würde nicht gehen, denn wenn es sich tatsächlich um den verschollenen Sohn der Frau handeln sollte, dann spielte die Zeit, die seit dessen Verschwinden vergangen war, eine wichtige Rolle, ebenso wie die Frage, was mit dem Mann in dieser Zeitspanne geschehen war. Niemand, der in der damaligen DDR auf derart mysteriöse Weise vom Erdboden verschluckt oder, wenn seine Auftraggeberin recht hatte, gekidnappt wurde, tauchte nach beinahe vierzig Jahren in irgendeinem Kaff im Harz wieder auf, wo er ein einfaches, unauffälliges Leben führte. So etwas gab es nicht. Oder etwa doch?

      Je länger er darüber nachdachte, desto weniger Zweifel hatte er daran, dass die Dinge komplizierter lagen, als sie auf den ersten Blick schienen. Zumal er heute Morgen in den Nachrichten von einem Mord gehört hatte. Vom Mord am Marktleiter eben jenes Supermarktes, in dem Hanka Altmann glaubte, ihrem Sohn begegnet zu sein. Das musste, für sich genommen, erst einmal nichts bedeuten. Er konnte auf Anhieb keine Zusammenhänge erkennen. Allerdings lehrte ihn seine Erfahrung, dass der erste Eindruck zumeist täuschte. Er spürte, dass es auch in diesem Fall so war. Sollte er sich tatsächlich auf die Suche nach dem Vermissten machen, dann konnte er nicht nur an der Oberfläche kratzen. Dann musste er tiefer graben. In einer Vergangenheit, die auch seine war. Zu seiner eigenen Sicherheit. Und außerdem würde er Hilfe brauchen.

      In Gedanken ging Blume all jene Personen durch, die ihm bei seiner Suche nützlich sein konnten, vor allen Dingen aber, denen er vertraute. Viele waren es nicht. Im Grunde hätte er sich die Überlegungen sparen können, denn von der ersten Sekunde an hatte sich ein Name in seinem Kopf festgebissen. Es war der Name einer Person, die ihm näherstand, als jeder andere Mensch auf der Welt. Und das, obwohl er sie schon seit den Tagen kurz nach der Grenzöffnung nicht mehr gesehen hatte. Heimlich, ohne Abschied, ohne ein Wort der Erklärung war er damals aus ihrem Leben verschwunden. Von einer Minute auf die andere. Sie waren sich danach nie wieder begegnet, hatten nichts mehr voneinander gehört. Vergessen hatte er sie dennoch nicht. Er wusste nicht, wo sie sich aufhielt, wie sie lebte und was sie trieb, wie sie die zurückliegenden Jahre verbracht hatte. Er würde sie suchen müssen. Und wenn er sie gefunden hatte, würde er sie erst um Verzeihung und dann um Hilfe bitten. Von ihr wollte er es abhängig machen, ob er Hanka Altmanns Auftrag ausführte oder nicht. Sollte sie ihm vergeben und helfen wollen, war er zu allem bereit. Er hatte eine Heidenangst, ihr unter die Augen zu treten. Trotzdem beschloss er, genau diesen Weg zu gehen.

      5. Kapitel

      Erik Galland betrat das voll besetzte Café am Goslarer Marktplatz. Er brauchte einen Moment, ehe er Frank Neudeck, seinen Kontaktmann, entdeckte. Natürlich saß der wie immer an einem strategisch günstig gelegenen Platz. Von da hinten konnte er den Eingang im Auge behalten und den gesamten Raum überblicken, ohne selbst sofort gesehen zu werden. Vermutlich war es von Neudecks Tisch aus auch nur wenige Schritte bis zu den Toiletten. Solche Details waren ihm wichtig bei der Wahl des Tisches.

      Der Mann fand immer wieder neue Orte für ihre Besprechungen, wählte nur äußerst selten einen Treffpunkt zweimal. Erik blieb kurz am Eingang stehen und ließ seine Augen durch das Café wandern. Dann schlängelte er sich zwischen den Gästen hindurch, steuerte auf Neudeck zu.

      „Hallo Frank. Nett hier“, sagte er zur Begrüßung.

      „Setz dich“, entgegnete Neudeck schroff, ohne den Gruß zu erwidern.

      Erik zog überrascht die Augenbrauen hoch und quetschte sich auf den Stuhl in der engen Nische zwischen Tisch und Wand. „Schlechte Laune?“, fragte er

      bissig. Er mochte es nicht, herumkommandiert zu werden.

      „Was ist mit Knoche passiert?“, kam Neudeck sofort zur Sache. „Wer hat ihn ausgeknipst, verdammt? Habt ihr ihn liquidiert? Du und deine Kameraden?“

      „Das Gleiche wollte ich von dir wissen. Lag ja nahe, dass du mich deswegen hast kommen lassen. Also, ich war’s nicht. Und dein Verein?“

      „Nein, verdammt!“, fauchte Neudeck. „Würde ich dich sonst fragen?“

      Der Mann wirkte nervös, wich seinem Blick aus, sah an ihm vorbei in den Gastraum.

      „Ist ja gut“, beschwichtigte Erik. „Ich hab ihn jedenfalls nicht plattgemacht.“

      „Sagt keiner, dass du das warst. Ich will wissen, ob ein anderer von euch dahintersteckt. Und wenn ja, warum?“

      „Wer denn? Für die Jungs aus der regionalen Szene war er ein unbeschriebenes Blatt. Ein Zugereister, der nicht groß aufgefallen und keinem in die Quere gekommen ist.“

      „Und was hört man von seinen beiden speziellen Freunden?“

      „Keine Ahnung. Ich hatte mit denen bisher nichts weiter zu tun. War allein mit Dietmar beschäftigt.“

      „Haben die Typen sich vielleicht bei Monas Mädchen ausgeheult? Weißt du davon irgendwas?“

      „Nein! Aber ich renne auch nicht jeden Tag in ihren Puff! Ich habe Frau und Kind!“

      Ach ja, Mona! Was würde er ohne sie machen! Ihr Bordell war Anlaufstation für die sexuell notleidenden und bedürftigen Kameraden der rechten Szene und außerdem ein Sammelbecken für alle möglichen Gerüchte und In­trigen, aber auch für handfeste Tipps. Erik kannte Mona schon etliche Jahre, hatte selbst in ihrem Etablissement immer mal Dampf abgelassen, wenn ihm danach war – bevor er Rike kennengelernt hatte. Jetzt waren er und die Bordellchefin nur noch beste Freunde und weiter, als bis an die Bar im Foyer ihres Hauses zog es ihn kaum noch. Er wusste, dass Monas Ohren für Mitteilungsbedürftige weit geöffnet waren, ebenso wie ihr Mund für Außenstehende fest verschlossen blieb. Innerhalb ihres hermetisch abgeriegelten Refugiums bekam man jedoch gelegentlich die eine oder andere brauchbare Information, wenn man ihr Vertrauen genoss. Und Erik gehörte zum Glück zu diesem erlauchten Kreis. Gelegentlich tat es ihm leid, dass er die Bordellchefin für seine Spitzeltätigkeiten missbrauchte. Das hatte sie nicht verdient, die gute Seele. Aber sie war nun mal fest im rechten Lager verwurzelt und kämpfte auf ihre Art für die rechtsnationale Sache. Nun, jeder Mensch musste sich irgendwann entscheiden. Er, Erik, hatte es getan – zu ihrem Pech für die Gegenseite.

      Mona war es auch gewesen, die ihm das mit dem angeblich so großen Unternehmen gesteckt hatte. Die drei Kerle waren eines Tages bei ihr aufgekreuzt. Dietmar, Oliver und Patrick. Niemand kannte sie näher. Immerhin, sie waren stramm rechts orientiert, wären ansonsten auch nicht eingelassen worden. Erik hatte seine Informationen sofort an Neudeck weitergegeben, der für seine Verhältnisse ungewöhnlich nervös und hektisch auf die Nachricht reagiert hatte. Er war von ihm umgehend auf Dietmar Knoche angesetzt worden.