dieser mit den Einzelheiten des Berichtes rausrückte.
Ich wünschte, ich hätte es ihr gleichgetan.
Ich wünschte, ich hätte nie erfahren, was in dieser Nacht passiert war. Was unserer Tochter angetan wurde.
Der Mörder hatte Maja gefesselt und geknebelt, bevor er sich über die Kasse hermachte. Als er fertig war, kehrte er dorthin zurück, wo er unser Mädchen zurückgelassen hatte. Er benutzte alles, was er in die Finger kriegen konnte: einen Besen, einen Hocker, eine herausgetretene Strebe aus dem Treppengeländer, den Feuerlöscher. Im Obduktionsbericht stand, in Majas Gesicht waren Abdrücke von Schuhen zu sehen.
Meine Finger krallten sich um das Papier.
Penny machte Überstunden, um nicht nach Hause zu müssen, wo der leere Esstisch wartete und das Jugendzimmer mit den Postern von den Rockstars an den Wänden, den alten Puppen und Kuscheltieren, mit denen Maja gespielt hatte, als sie noch klein war. Wo die Stille lauerte und das Schweigen und all die schlimmen Erinnerungen.
In den Nächten lag ich wach und lauschte den fernen Geräuschen des Verkehrs und den Atemzügen meiner Frau. Wenn ich mich umdrehte, schaute ich in ihre geöffneten Augen.
Penny hatte nicht gewollt, dass unsere Tochter in Berlin aufwächst. Zu laut, meinte sie, zu gewalttätig, zu gefährlich. Ich hatte ihr widersprochen und mich am Ende durchgesetzt. Maja sollte früh genug das Leben kennenlernen. Beziehungsweise das, was ich für »das Leben« hielt. Die Stadt war laut, ja. Aber sie war auch bunt, aufregend und bot viel Inspiration für einen gerade flügge gewordenen Schriftsteller wie mich. Auf jeden Fall war sie anders als der provinzielle Mief der Kleinstadt, in dem ich aufgewachsen war. Berlin zog Schicksale an wie ein Schwamm, erzählte Geschichten, die nur auf einen Chronisten wie mich warteten. Hier konnte man erfolgreich sein oder aber in Würde scheitern.
»Berlin verzeiht alle Fehler«, hatte ein Freund behauptet.
Penny machte mir keine Vorwürfe. Trotzdem glaubte ich, die stumme Anklage in ihren Augen zu lesen.
Wenn ich nicht schlafen konnte, stand ich auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. Unter mir entfaltete sich ein architektonischer Alptraum aus Betonklötzen, zwischen denen sich kilometerlange Flüsse aus Asphalt ergossen. Dort draußen lebten Menschen, die miteinander redeten, stritten, sich liebten, träumten. Die nichts von der dünnen Mauer ahnten, die sie vor dem Einbruch völliger Barbarei trennte.
Es gab Zeiten, da hasste ich sie mit einer Verbitterung, die mich erschreckte. Ich hasste ihre satte Zufriedenheit, ihr Glück. Sie konnten schlafen, ich nicht.
Vor Majas Tod schrieb ich Bücher: Gedichte, Märchen, Gute-Nacht-Geschichten für Kinder, die ich ihr vorlas, als sie noch klein war. Nach ihrem Tod konnte ich es nicht mehr. Ich versuchte es, aber es wurden keine guten Geschichten. Das Wenige, was ich zu Papier brachte, war miserabel geschrieben. Ich fand keinen roten Faden, mir fielen keine Happy Ends ein.
Es war, als hätte ich vierzig Jahre meines Lebens im Innern einer Seifenblase zugebracht. Nun war sie zerplatzt. Ich war in der harten Realität angekommen. Irgendwann gab ich das Schreiben auf. Ich packte den Stapel unfertiger Manuskripte in einen Karton und trug ihn runter in den Keller, wo es bis heute liegt und verstaubt.
Vor Majas Tod verschlang ich Kriminalromane. Der ewige Einheitsbrei aus zwei gegensätzlichen Ermittlern machte mir nichts aus. Rätsel-Krimis – ich liebte sie. Die Taten waren ausgeklügelt, die Täter gingen raffiniert vor und hatten immer irgendein besonderes Motiv: Rache, eine Erbschaft, verschmähte Liebe, die Vertuschung von irgendwas. Während ich in der Therapiegruppe für die Angehörigen von Gewaltopfern saß und mir ihre Geschichten anhörte, wurde mir klar: die Meisten trifft es in Wirklichkeit zufällig. Es geht um Nichts, um einen Blick, ein falsches Wort, eine Geste, ein paar Euro. Die Erkenntnis, dass unser Leben nicht unserer Kontrolle unterliegt, sondern der Willkür anderer, traf mich wie ein Faustschlag.
Abend für Abend stemmte ich in meinem Arbeitszimmer Gewichte. Ich lieferte mir zwölf Runden mit einem zusammengerollten Teppich, bis unser Nachbar an die Wand hämmerte und brüllte, ich solle endlich aufhören. Ich schrie zurück, er könne seinen Arsch rüberschieben und es mir ins Gesicht sagen.
Maja war Anfang zwanzig gewesen, in einem Alter, wo du als Vater glaubst, dein Kind hätte das Gröbste hinter sich: die Pubertät, das Rasen mit dem Motorrad, den ersten Liebeskummer, den ersten Alkoholrausch, Kontakt mit Drogen.
Und nun das.
Warum hatte sie auch diesen beschissenen Job annehmen müssen? Warum die Nachtschichten? Was hatten wir bloß falsch gemacht? Maja behauptete, sie hätte nachts ihre Ruhe. Könnte lernen und nebenbei Geld verdienen. Hätten wir ihr mehr Geld fürs Studium geben müssen? An welcher Stelle war das Leben umgekippt von etwas, was man plant, zu etwas, was passiert, was über einen hereinbricht wie eine Naturkatastrophe?
Es waren unfruchtbare Fragen. Es war zu viel für einen Menschen, erst recht zu viel für zwei. Dieser Belastung hatte unsere Ehe nicht standgehalten.
Mein Hausarzt verschrieb mir Beruhigungstabletten; ich sollte sie nach Bedarf nehmen. An einem dieser stillen Abende, als ich allein zu Hause saß und der Schmerz und die Verzweiflung unerträglich wurden, schluckte ich sie wie Bonbons.
Als meine Frau von der Arbeit kam, fand sie mich im Flur auf dem Boden sitzend, den Rücken an die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt, die leere Packung Tabletten daneben.
Penny rief sofort den Rettungswagen.
Ich kam zu mir, als mich zwei Gestalten untergehakt durch das Treppenhaus zum Fahrstuhl führten. Dem Kerl rechts von mir rammte ich den Ellenbogen ins Gesicht. Was ich mit dem anderen machte, weiß ich nicht mehr. Der Boden stürzte auf mich zu, als sie mich losließen.
Irgendwann erwachte ich auf einem Bett, an einen Tropf angeschlossen. Vor dem Fenster war Nacht. Sie hatten mir nicht den Magen ausgepumpt. Sie ließen mich einfach ausschlafen.
Ich schleppte mich zum diensthabenden Arzt und unterschrieb ein Formular, dass ich auf eigene Verantwortung das Krankenhaus verlasse. Erst als ich vor der Haustür nach dem Schlüssel tastete, bemerkte ich die Kanüle, die immer noch in meinem Handrücken steckte.
Eines Tages lud mich ein früherer Arbeitskollege, mit dem ich mich hin und wieder traf, in den Schützenverein ein. Ich erinnere mich noch genau an das erste Mal, an das Gewicht der Pistole, den Geruch von Öl und Verbrennungsrückständen, den Widerstand des Abzugs und an den Rückschlag danach. Ich fühlte die Energie, die vom Griff der Waffe in meine Arme strömte. Nur widerwillig trennte ich mich von ihr, als die Zeit rum war.
Ich kam auch beim nächsten Mal mit. Und auch beim übernächsten.
An einem dieser Wochenenden trat Milton in mein Leben.
Ich wurde auf ihn aufmerksam durch die Art wie er schoss. Anders als ich, anders als die anderen, feuerte er stets Doppelschüsse ab. Und immer schoss er, sobald er die Waffe in Anschlag gebracht hatte. Es gab kein Zögern, kein langes Aufnehmen des Ziels. Peng-Peng, drang es, gedämpft durch den Gehörschutz, an mein Ohr. Und wieder: Peng-Peng.
Er schoss gut. Er schoss besser als die meisten von uns. Manchmal verdächtigte ich ihn, er platzierte absichtlich einen Treffer daneben, um die übrigen Schützen, mich eingeschlossen, nicht all zu schlecht aussehen zu lassen.
Im Vereinsraum setzte er sich so, dass er den Eingang und jeden, der kam oder ging, sofort im Auge hatte. Bei einem Kaffee kamen wir ins Gespräch.
Er sagte Sätze wie diesen: »Die Menschen, die ihre Schwerter zu Pflugscharen schmiedeten, wurden umgebracht durch Menschen, die das nicht taten.«
Es hätte pathetisch klingen können, doch Milton hatte nichts Pathetisches an sich. Seine Sätze fielen hart wie Knüppelhiebe. Sie trugen eine brutale Wahrheit in sich, die mir bis dahin entgangen war.
In meinem ganzen Leben habe ich keinen Menschen getroffen, der einerseits so ruhig und bestimmt sprach und dessen Augen gleichzeitig immerfort in Bewegung waren. Ständig scannten sie die Umgebung, erfassten Dinge, die mir verborgen blieben. Nie habe ich erlebt,