Eike Bornemann

Jeder des anderen Feind


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Gewalt, Brutalität und Leid sein, frage ich dich? Gebt mir für jeden dieser Heuchler lieber einen waschechten Zyniker!«

      Herold hatte meinem Ausbruch schweigend zugehört. »Hast du immer noch nichts von Penny gehört?«, forschte er dann behutsam nach.

      Genervt winkte ich ab. Ich hatte keine Lust, über mein eigenes verpfuschtes Leben zu reden. Ich wollte über die ganze verpfuschte Welt reden.

      »Wenn du auf so was stehst, hättest du Youtube-Blogger werden sollen«, brummte er. »Aber dann solltest du dir überlegen, ob Journalismus noch das richtige für dich ist. Ich meine richtigen Journalismus, nicht diesen reaktionären Blogger-Dreck.«

      »Die Sache ist doch die«, sagte ich müde. »Hier gibt’s für mich nichts zu tun. Du jagst mich von einer Pressekonferenz zur nächsten und ich fühl mich wie ein Papagei, der alles nachplappert.«

      Herold schaute mich aufmerksam an. »Willst du freigestellt werden? Willst du zu deiner Familie?«

      Ich schüttelte den Kopf, verärgert darüber, dass er mich anscheinend für einen Drückeberger hielt. »Gib mir einfach was zu tun. Ich gehe hier die Wände hoch, verstehst du? Gib mir eine Aufgabe.«

      Ich hatte mit einer flapsigen Antwort gerechnet, etwa die, dass alle ihre Probleme hätten. Stattdessen lehnte er sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und fixierte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Unter seinen Achseln lagen Schweißflecken in der Größe von Bowlingkugeln.

      »In der Nacht, als die ersten Polarlichter über den Himmel flackerten, da tanzten unten auf der Straße Leute vor meinem Haus.« Es klang beiläufig, als erzählte er vom Frühstück. »Die beklatschten jedes Aufflammen, als ob’s ein Feuerwerk zu Silvester wäre. Diese Zeit bringt nicht gerade das Beste im Menschen zum Vorschein.«

      Ich behielt für mich, was ich über diese Zeit und ihre Werte dachte.

      »Vor ein paar Jahren kam ich mal an einem Unfall vorbei, Outis. Der Notarzt war gerade dabei, einen Mann wiederzubeleben. Vielleicht hatte der einen Herzanfall, vielleicht war er gestürzt – ich weiß es nicht. Während der Arzt sich um den Mann kümmerte, stiegen ungerührt Leute über beide hinweg. Manche schimpften. Sie hatten keine Zeit. Wollten ihre Straßenbahn noch erwischen. Es war ihnen egal, dass vor ihnen ein Mensch lag und sie seine Rettung behinderten.«

      »Ich hoffe, diese empathielosen Wichser hat es gleich als Erstes erwischt, als der Blackout losging«, sagte ich hasserfüllt.

      Er tat, als hätte er mich nicht gehört. »Und das war zu einer Zeit, als es uns gut ging. Was wir gerade erleben, kann man ohne Übertreibung als moralische Auszeit bezeichnen.«

      »Das ist gut, das muss ich mir merken.« Ich versuchte gar nicht erst, den Sarkasmus aus meiner Stimme fernzuhalten. »Darf ich das für meinen Artikel verwenden? Es klingt irgendwie so … aufbauend. So lebensbejahend.«

      Ein verlorenes Lächeln huschte über Herolds Gesicht. »Glaub nur nicht, ich würde dich nicht verstehen. Als in den 90er Jahren die große Oderflut kam, war es das Militär, das eine Katastrophe verhinderte. Ich war einer von denen, die sich auf den Deichen den Arsch abschufteten, damit das Oderbruch nicht voll lief. Damals waren wir Helden. Aber jetzt? Der Kalte Krieg ist vorbei. Die alten Feinde sind verschwunden. Die Truppe hat ein Image-Problem. Wir brauchen Aufgaben. Aber vor allem brauchen wir Vorbilder.«

      »Wenn du glaubst, ich will mich vor der Arbeit drücken, bist du schief gewickelt«, sagte ich, seinen letzten Satz wieder auf mich beziehend.

      »Ach Unsinn!« Das Leder des Bürosessels knarrte, als sich mein Chef nach vorne beugte. »Machen wir uns nichts vor; wir sitzen gerade tief in der Scheiße. Und wie es aussieht, haben wir den Grund der Gülle noch gar nicht erreicht. Was mich wieder zurück zum Thema bringt. Was wir in dieser Zeit mehr denn je brauchen, sind – bitte entschuldige meinen Pathos – Helden. Wir brauchen Leute, die zupacken, zu denen die Leute aufschauen können. Leute mit Mut, Grips, Opferbereitschaft, moralischer Stärke …«

      Ich unterbrach ihn, ehe er weitere heroische Superlative bemühen konnte. »Einen Action-Held wie im Kino meinst du?«

      Herold schüttelte unwillig den Kopf. »Was ist bloß los mit diesem Land? Wieso sagt jeder immer wie im Kino? Irgendwo passiert was, ein Unfall, eine Katastrophe, ein Verbrechen – und immer heißt es gleich: Es sah aus wie im Kino!«

      »Schon gut«, winkte ich ab. »Du willst also, dass ich über einen Helden schreibe, hab ich das richtig verstanden? Kannst du mir auch verraten, wo ich einen solchen Ritter ohne Furcht und Tadel finden soll?«

      »Hier ganz sicher nicht. Misch dich unters Volk. Fahr mit den Einsatzkräften mit. Geh dorthin, wo Action ist. Bist du nicht Reservist?«

      Die Frage war rhetorisch. Natürlich wusste mein Arbeitgeber davon. Schließlich hatte er mich für die Lehrgänge freistellen müssen.

      »Hab gehört, der Marschbefehl ist gerade rausgegangen«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Der Pressesprecher der Regierung wird’s wahrscheinlich in Kürze bestätigen. – Dabei fällt mir ein: Der Presse-Feldwebel deines Paten-Bataillons soll sich angeblich mit einer Salmonelleninfektion krankgemeldet haben. Wäre das nichts für dich?«

      Er war bemerkenswert gut informiert. Ich fragte mich, wozu er mich noch brauchte, wenn er sowieso schon alles vor mir wusste.

      »Die lassen mich nie an seine Stelle«, sagte ich überzeugt. »Du kennst die Richtlinien. Der PR-Mann der Truppe darf selbst kein Journalist sein. Soll Loyalitätskonflikte verhindern.«

      »Ach was, im Moment geht hier doch sowieso alles drunter und drüber. Lass den alten Herold nur machen. Glaub mir, die werden dich mit Kusshand nehmen, wenn ich ihnen erst mal unter die Nase reibe, dass du Schriftsteller bist.«

      »War«, verbesserte ich ihn.

      »Dann wirst du wieder einer sein. Schreib, sei pathetisch, gebrauche Metaphern bis zum Abwinken – nur tu mir den Gefallen und stell diesen beschissenen Zynismus ab, ja? Werd wieder ein Mensch!«

      »Sie werden mich nicht nehmen«, wiederholte ich verärgert. Herolds Optimismus wirkte auf mich zunehmend anstrengend.

      »Sie werden, Outis!«

      »Warum sollten sie das tun?«

      Herold angelte wieder nach dem Satellitentelefon.

      »Aus Eitelkeit?«, schlug er vor. »Für George Orwell war der Gedanke an den allgegenwärtigen Big Brother ein Alptraum. Unsere Generation hat sich dagegen dran gewöhnt, ihre Ansichten und Vorlieben überall raus zu posaunen. Die Vorstellung von einer Welt ohne Facebook, Instagram und Twitter muss für die Meisten der blanke Horror sein.« Er schaute mich an. »Wir haben kein Fernsehen mehr, keine Talkshows, kein öffentliches Casting, keine Youtube-Channels, keine fünfzehn Minuten Ruhm für Jedermann. Niemand ist da, der über uns Geschichten erzählt. Deshalb werden sie dich nehmen. Wer würde sich heute noch an Achilles erinnern, wenn Homer nicht die ganze vertrackte Story aufgeschrieben hätte?« Er nickte mit dem Kinn in Richtung Ausgang und streckte gleichzeitig die Hand nach dem Telefon aus. »Und jetzt geh rüber. Hör dir an, was sie zu sagen haben.«

      An der Tür blieb ich stehen. »Was hältst du eigentlich von der Geschichte, dass Homer angeblich blind gewesen ist? Er war nicht mal dabei, als es Achilles erwischte.«

      Ich sah, wie Herolds Silhouette vor dem hellen Viereck des Fensters mit den Schultern zuckte. »Wahrscheinlich konnte er gut zuhören.«

      »… hat daher die Bundesregierung den Ländern die Weisung erteilt, die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei hinzuzuziehen.«

      Der Pressesprecher der Regierung war ein früherer Fernsehjournalist, dessen Moderation zu 9/11 mit dem Preis der Goldenen Kamera ausgezeichnet wurde. Als er geendet hatte, herrschte einen Augenblick Schweigen. Dann brach erregtes Stimmengewirr aus. Mehrere Journalisten hoben gleichzeitig die Hand und versuchten, den Regierungssprecher auf sich aufmerksam zu machen.

      »Schließt das