Eike Bornemann

Jeder des anderen Feind


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mir lieber von deiner Aufgabe«, sagte ich.

      »Wir schützen Kasernen, Flugplätze, Rundfunksender, Lebensmittel- und Treibstoffdepots, Banken … So was halt. Weißt du, dass es in der ganzen Stadt nur fünf Tankstellen gibt, die mit Notstrom betrieben werden können?«

      Ich schüttelte den Kopf.

      »Tja, wusste ich bis heute auch nicht. Die werden gerade abgesichert wie ein Konsulat. Aber das machen Andere. Wir wurden für einen Flugplatz abgestellt. Auf den Weg dorthin sollen wir noch was erledigen.«

      Wieder spürte ich die alte Faszination, die mich schon bei unserer ersten Begegnung gepackt hatte. Die Katastrophe schien ihn nicht zu berühren. Mehr noch, anscheinend betrachtete er sie als Herausforderung. Herold … Milton … Der Regierungssprecher … In meiner Umgebung schienen sich eine ganze Menge Macher zu tummeln. Anderswo wurde Geschichte gemacht, während ich in der Etappe versauerte.

      Ich rückte den Pappbecher mit dem erkaltenden Tee auf dem Tisch hin und her. »Reden wir von deinem Einsatz. Was sollt ihr auf dem Weg zum Flugplatz erledigen? Oder ist das geheim?«

      »Ach wo«, winkte er ab. »Den alten Windisch kennst du noch?«

      »Oberst Windisch vom Landeskommando?«

      »Der ist jetzt bei der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit. Und redet immer noch dieselbe Sülze wie eh und je, von wegen wir Soldaten wären Mittler zwischen Armee und Gesellschaft. Die alte Leier. Du kennst ihn.«

      »Der Einsatz«, brachte ich ihn aufs Thema zurück.

      »Richtig. Also ich werd‹ zu einer Besprechung gebeten, und als ich reinkomme, sitzt da Windisch mit drei Zivilisten zusammen: eine Referatsleiterin von der IIIA, ein Typ vom Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt … Wozu der dritte da war, hab ich vergessen. Jedenfalls diskutieren die gerade die Evakuierungen der ersten Hochhaussiedlungen.«

      »Steht es schon so schlimm?«

      »Du warst wohl in den letzten Tagen nicht zu Hause?«, erkundigte er sich mit gutmütigem Spott.

      »Ich schlafe seit drei Tagen in der Redaktion.«

      »Dann lass mich dich mal kurz briefen. In den Hochhaussiedlungen herrscht gerade SHTF.«

      SHTF. Shit Hits The Fan. Die Kacke war am Dampfen. Fast so schlimm wie WC – Worst Case – aber nicht ganz so heftig wie EOTW – The End Of The World. Nerd-Sprache. Wenn sich Prepper unterhielten, war’s, als würdest du besoffen einer Folge von Raumschiff Enterprise folgen.

      »In dem Fall kannst du das ruhig wörtlich nehmen«, fuhr Milton fort. »Ohne Strom reicht der Wasserdruck nur bis zur dritten Etage. Alles darüber hat nicht mal mehr Wasser zum Spülen der Klos.«

      Er lehnte sich zurück, kramte in seinen Taschen und fingerte eine zerdrückte Schachtel Pall Mall raus. Ich wartete darauf, dass er zum Punkt kam.

      »Im Moment werden die Leute noch aus großen Tanks versorgt«, fuhr er nach den ersten Zügen fort. Er kam gar nicht auf den Gedanken, mir eine Zigarette anzubieten. »Aber kein Mensch schleppt jeden Tag fünfzehn Liter Wasser in den zehnten Stock hoch. Oder nimmt das Treppenhaus, um unten die Dixi-Klos zu benutzen. Die scheißen in Kübel und kippen’s ganz einfach aus dem Fenster.« In seiner Stimme fand sich keine Spur von Betroffenheit.

      »Also wie eh und je.« Ich nickte. »Die Oberen bescheißen die Unteren.«

      Ich stellte fest, wie mich Miltons Kaltschnäuzigkeit ansteckte. Flüchtig dachte ich, dies müsse das Geheimnis von archaischen Kriegerbünden sein, wo man gegenüber den Kameraden keine Schwäche zeigt. An Fantasie mangelte es mir nicht. Die Bilder, die Miltons Worte heraufbeschworen, tauchten lebhaft vor meinem inneren Auge auf: in der Dämmerung aufragende stockdunkle Wohntürme, in deren Fensterhöhlen vereinzelt Kerzen brannten; in den Klüften dazwischen Spielplätze, die sich langsam in Müllhalden verwandelten und verdorrte einstige Grünflächen, die wie ein gedüngtes Feld stanken.

      Trotzdem – Seuchengefahr hin oder her, wäre es nicht besser, die Leute in ihrer gewohnten Umgebung zu lassen? Dort hatten sie wenigstens ein Dach über dem Kopf. Soziale Kontakte. Ich machte eine entsprechende Bemerkung.

      Milton winkte ab. »Allein in der Gropiusstadt brauchen sie eine Million Liter Wasser pro Tag. Und das auch nur, wenn sie sparsam sind. Zwar gibt’s übers Stadtgebiet verteilt um die 2000 Straßenbrunnen, allerdings ist nur bei etwa einem Drittel die Wasserqualität ausreichend. Wie willst du da die Massen an Wasser und Lebensmitteln heranschaffen? Wie verteilen, ohne dass einer zu kurz kommt?«

      »Nachbarschaftshilfe?«, schlug ich halbherzig vor.

      Milton schnaufte verächtlich durch die Nase. »Das sind anonyme Bettenburgen, Outis. Glaubst du, da denkt irgendwer ans Teilen?«

      Er schnippte mit dem Finger, um anzudeuten, wie wenig er in der Krise ans Teilen denken würde. »Die Leute stehen schon jetzt viele Stunden am Tag an den Versorgungspunkten und Straßenbrunnen Schlange.«

      »Na dann haben sie ja jetzt genug Gelegenheit, sich kennenzulernen.«

      »Witzbold.« Milton grinste. »In der Stadt ist für die Masse an Leuten kein Platz. Die haben schon genug Probleme, die ganzen gestrandeten Touristen unterzubringen. Es ist Sommer. Hochsaison. Die Notunterkünfte platzen aus allen Nähten.«

      »Ob es überall so aussieht?«

      »Da geh ich jede Wette ein. Was glaubst du, was erst in zwei Wochen los ist, wenn der halbe Ruhrpott abgesoffen ist?«

      Ich schaute ihn fragend an. Er erklärte es mir. Wegen des Kohlebergbaus hatte sich der Boden in den letzten Jahrzehnten immer mehr abgesenkt. Ein Großteil der Städte lag inzwischen in Mulden, aus denen ständig das Niederschlagswasser abgepumpt werden musste.

      »In nicht mal einem Monat haben sich Bottrop und Gladbeck in Vineta verwandelt«, prophezeite er. »Dann werden fünf Millionen auf Wanderschaft sein.«

      »Zurück zu unseren Problemen hier«, forderte ich. »Was ist mit den Evakuierungen?«

      »Nun, sie bauen im Brandenburger Umland Notquartiere auf. Überall da, wo sich Verkehrsknotenpunkte befinden: Autobahn, Wasserstraßen, Kleinstflugplätze …«

      »Ich verstehe. Das vereinfacht den Transport, nicht wahr?«

      »Vor allem vereinfacht es die spätere Versorgung.«

      »Was hat das Wasser- und Schifffahrtsamt damit zu tun?«

      Er sah mich mit dem Blick eines Lehrers an, der irritiert darüber ist, dass sein Schüler nicht mal die einfachsten Zusammenhänge kapiert.

      »Allein in Gropiusstadt hausen 38 000 Leute. Das ist fast die Größenordnung von Pribjat. Als dort der Reaktor hochging, brauchten die Russen für die Evakuierung zwei Tage. Aber die hatten tausend Busse, über hundert LKWs und mehrere Sonderzüge. Die Straßen waren frei, das Schienennetz funktionierte und es gab ein sicheres Umland. Hier herrschen ganz andere Zustände. Die Schienen sind mit liegengebliebenen E-Zügen verstopft, die Stellwerke funktionieren nicht, die Weichen müssten über die gesamte Strecke festgeschraubt werden. Die Verkehrsleitsysteme sind ohne Strom, die Tunnel ohne Licht. Trotzdem wollen die das Ganze in drei Tagen durchziehen.«

      »Drei Tage? Du lieber Himmel!«

      »Du gestattest?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern bediente sich gleich von meinem Teller.

      »Tja, Realitätssinn war noch nie die Stärke der Politik«, fuhr er kauend fort. »Die Köpfe in den Wolken, ohne das geht’s bei ihnen nicht. Aber Gedanken haben sie sich schon gemacht, das muss man ihnen lassen.«

      Er wischte sich die Finger an der Serviette ab und griff wieder nach der Zigarette. »Wenn man die Kanäle dazu zählt,kommt man in Berlin auf zweihundert Kilometer Wasserstraßen. Durchgehend frei, man muss nur die Schleusen kontrollieren. Rechne nach: Hundertfünfzig Fahrgastschiffe, die rein rechnerisch knapp zehntausend Leute auf einen Schlag transportieren können. Was