Johannes Czwalina

Wer mutig ist, der kennt die Angst


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nicht die Ziele. Deswegen wird derjenige, der echte Zivilcourage leistet, diese unabhängig vom Erfolg seiner Tätigkeit ausüben. Zivilcourage zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie aktiv wird, ohne vom Ziel her gewiss zu sein. Das Wesen der Zivilcourage besteht nicht darin, andere Menschen um jeden Preis überzeugen zu müssen. Sondern ihr Wesen besteht in der Fähigkeit, anderen gegenüber das frei ausdrücken zu können, was man denkt und fühlt.

       Zivilcourage ist für jeden verfügbar

      Mut und Zivilcourage sind für jeden verfügbar. Die Fähigkeit des Menschen zum Mut macht Zivilcourage möglich, die Neigung des Menschen zur Feigheit macht Zivilcourage nötig. Der wirklich Mutige ist niemals angstlos, sondern stellt sich der ängstigenden Situation in dem Bewusstsein, verwundbar zu sein.

      Schließlich ist festzustellen, dass Zivilcourage nicht verordnet werden kann. Zivilcourage entsteht immer aus persönlichem Antrieb und eigener Initiative.

      Wenn ich zurückblickend überlege, was mich schon als Kind am meisten beeindruckt hatte, dann waren es Menschen, die sich mit Mut und der Bereitschaft, persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen – bisweilen unter Einsatz ihres Lebens –, für eine gerechte Sache eingesetzt hatten. Es handelte sich um authentische Menschen, die auch unter Druck und widrigen Umständen so blieben, wie sie waren, die sagten, was sie dachten, und die lebten, wie sie redeten. Einige von diesen Wenigen kamen leider nur in Filmen oder Abenteuerbüchern vor.

       Warum sind Menschen feige?

      Was mich als Kind bisweilen in Konflikt mit der Erwachsenenwelt brachte, waren meine als vorlaut abgestraften Entgegnungen auf gewisse Erklärungen. Wenn ich Erwachsene auf ihre fehlende Zivilcourage in schweren Zeiten angesprochen hatte, führten sie ihre Fürsorgepflicht für die Familie ins Feld und antworteten mit: »Wir hatten ja keine andere Wahl.« Oder sie beriefen sich auf ihre Ahnungslosigkeit: »Wir haben ja im Grunde von nichts gewusst.« Sie waren also aus Selbstschutz bewusst ignorant. Oder die »besondere Situation« wurde als Ausrede verwendet: »Die Umstände haben es nicht zugelassen.« Aber wann lassen es die Umstände überhaupt zu, mutig zu sein?

      Emmi Bonhoeffer reflektiert: »Es gibt in der ganzen Welt, glaube ich, keine Widerstandsbewegung, wenn es den Leuten von Tag zu Tag besser geht. Moralische Gründe und politische Weitsicht reichen nicht aus, wenn die Leute Butter auf dem Brot haben. Ich habe nach dem Krieg mal in Kärnten Urlaub gemacht und dort mit einem Bauern gesprochen. Ich fragte: ›Sie leben hier in einer fromm katholischen Gegend. Wie war das eigentlich während des Krieges? Hat der Priester Ihnen gesagt, wie wir uns in Russland benahmen, was da in Polen in den Konzentrationslagern passierte?‹ Der Bauer antwortete: ›Wir waren fünf Kinder, mein Vater arbeitslos, mein großer Bruder auch, meine Mutter arbeitete acht Stunden auf dem Nachbarhof für einen Liter Milch, und dann kam Hitler. Mein Vater kriegte Arbeit, mein Bruder auch, meine Mutter konnte zuhause bleiben, und Sie fragen, was der Priester sagte.‹ Brecht hatte es auf die kurze Formel gebracht: ›Erst kommt das Fressen, dann die Moral.‹ So ist der Mensch.«14

       Es gab eine Menge guter Kollegen, denen ihre Karriere wichtiger war als persönliche Werte.

      Die größten Enttäuschungen erlebte ich mit Menschen, die gekniffen haben, wenn es auf sie ankam. Es handelte sich um sogenannte Freunde, die plötzlich nicht mehr da waren, wenn rechterhalten der Freundschaft Nachteile brachte. Sie tauchten unerwartet unter, weil ihnen Machtpositionen und Anerkennung plötzlich mehr bedeuteten als die Verbindlichkeiten einer Freundschaft. Es gab eine persönliche Werte, von denen sie vorher ihr Persönlichkeitsprofil ableiteten. Natürlich hatten alle immer eine plausible Erklärung parat.

       Wenn es sogar Nachteile für die eigene Karriere bringt, sich hinter den Freund zu stellen, hält im Business nur noch ein Prozent der Betroffenen zum Freund.

      Von einem Unternehmensberater wurde mir Folgendes berichtet: Wenn ein Vorstand in seinem Unternehmen in Ungnade fällt, kann er sich kaum auf seine Freunde verlassen. Wenn es für die anderen Nachteile bringt, sich hinter seine Person zu stellen, bekunden am Anfang noch 80 Prozent seiner bisherigen Freunde die Solidarität, aber nur dann, wenn dies unter vier Augen geschieht. Sind die gleichen Leute in einer Gruppe mit anderen, bekennen sich nur noch 30 Prozent zu ihrem Freund. Geht es darum, unter Druck, ohne dass es eigene Vorteile bringt, zu dem Freund zu stehen, bleiben nur noch 3 Prozent übrig. Wenn es sogar Nachteile für die eigene Karriere bringt, sich hinter den Freund zu stellen, ist es nur noch 1 Prozent, das zu seinem Freund hält.

      In dem Augenblick, in dem der Betreffende couragierte Freundschaft dringend benötigt, fallen die bisherigen Anhänger wie ein lautlos versinkendes Begleitschiff vom bisher Umschwärmten ab. Außer den Konformisten scheint plötzlich auch der Kreis derjenigen, die ihn so gut kennen, dass sie ein echtes Urteil über die Qualität des Diffamierten haben müssten, wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Tief schmerzlich werden dann die Verleumdungen derjenigen Menschen empfunden, die dem nun Entehrten ihr Leben und ihren Aufstieg verdanken. Das ist immer so. Derjenige, der ins Schussfeld einer Hetzjagd gerät, sollte nichts anderes erwarten. Der Angeklagte hatte ein Heer von Menschen gehabt, die ihm zujubelten. Angesichts der Vorwürfe steht er jedoch abrupt verlassen da; denn dem Ansehen der Karriere der einst Verbündeten wäre Freundestreue dieser Art abträglich. Der innerste Kreis hält auch nur, wenn er sehr stabil ist. Es zeigen sich Schadenfreude, Besserwisserei und kopfschüttelndes Missachten in unverblümt taktloser Form. Jeder weiß, wie er es anders und besser gemacht hätte.

      Ich erinnere mich auch an meine Schulzeit in Berlin, als wir im Geschichtsunterricht das Dritte Reich durchnahmen. Uns wurde beigebracht, dass wir immer allem misstrauisch gegenübertreten sollen, was uns keine andere Wahl lässt. Wir wurden auf gewisse Sätze als Indikatoren für falsche Gedankensysteme hingewiesen. Wir fragten uns damals als Schüler, warum diese Lehrer, die ja in dieser Zeit, von der sie sprachen, schon mündige Erwachsene waren, nicht schon früher ihre Erkenntnisse umgesetzt hatten, als es noch nicht zu spät gewesen war, und warum sie nicht schon vorher ihre Erkenntnisse lebten, statt später uns zu belehren? Ich schreibe das ohne Groll, und ich frage mich selbst oft, was unsere Enkel einmal in der Schule über fehlende Zivilcourage lernen werden, wenn sie die gegenwärtige Zeitepoche in ihrem Geschichtsunterricht behandeln, und was wir ihnen antworten werden: »Wir hatten keine andere Wahl.«15 –»Der Markt hat uns bedingungslos gezwungen«?

      Der Journalist Karl-Otto Saur, dessen Vater unter Hitler Verantwortlicher für die Ankurbelung der Kriegsrüstung und für den Nachschub für Zwangsarbeiter war, schreibt in seiner Biografie, dass er sich immer wieder fragt, wie er sich selbst wohl verhalten hätte damals in der Diktatur. Und er findet keine Antwort darauf. In den Redaktionen, in denen er gearbeitet hat, habe er sich ebenso oft gefragt, was aus seinen Kollegen damals wohl geworden wäre. Wer wäre ein Nazi gewesen? Wer ein Täter? Wer ein Mitläufer? Diesen Blick bringe er nicht mehr raus aus seinem Kopf. Vielleicht sei das auch der Grund, warum Erfolg und Karriere nie Begriffe waren, die er für wichtig hielt im Sinne eines geglückten Lebens. Er habe in seinem Leben nur ein Ziel gehabt: Er wollte es besser machen mit seinen Kindern, als es sein Vater gemacht habe.16

      Einige der älteren Generation erinnern sich noch an ein Flugblatt der Harnack/​Schulze-Boysen-Organisation, welches in Berlin im Winter 1941/​42 verteilt wurde.17

      »Stellt euch der allgemeinen Angst entgegen! Immer wieder hört man die Redewendung: ›Wir müssen durch! Wenn wir jetzt nicht siegen, geht es uns allen schrecklich an den Kragen. Dies ist das Gerede, das die derzeitigen Machthaber selbst verbreiten, um ihre Herrschaft zu festigen. […] Die Weltgeschichte wird auf keinen Fall ihren tieferen Sinn verlieren, und das Unmögliche wird nicht möglich dadurch, dass wir uns in Verkennung der Dinge bemühen, dem Verbrechen und dem Wahnwitz zum Siege zu verhelfen, nur weil Verbrechen und Wahnwitz sich zur Zeit in Deutschland eingenistet haben.«

      Auch heute haben viele resigniert. Sie ahnen zwar, dass Zivilcourage der unter Beweis gestellte Mut zur Suche nach einem sinnerfüllten Leben ist. Aber sie sind zu dem Ergebnis gekommen: Zivilcourage lohnt sich nicht. Sie sind müde geworden und haben den Mut verloren und finden sich mit einem Leben