Johannes Czwalina

Wer mutig ist, der kennt die Angst


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in der Vorortbahn beobachten, wenden Sie sich an die Leute neben sich und fragen: Gefällt Ihnen das, was sich dort vorbereitet? Wollen wir alle zusammen aufstehen und uns einmischen? Besteht ein begründeter Verdacht auf permanente Gewaltanwendung in der Nachbarschaft, genügt schon ein anonymer Hinweis an das Jugendamt, um die Behörde zum Nachforschen zu veranlassen. Eine offene Zeugenaussage ist natürlich besser. Eine Frau wird bedroht. Sie haben Angst einzugreifen. Es könnte ja sein, dass das Opfer gar keine Hilfe will und sagt, Sie sollen sich zum Teufel scheren. Wenn Sie wissen wollen, ob eine echte Bedrohung vorliegt, fragen Sie: »Brauchen Sie Hilfe?« Oft genügt schon die Drohung, dass Sie die Polizei rufen und als Zeuge aussagen werden.

       Lieber ein Knick in der Karriere als im Rückgrat.

      Die negativen Folgen der oft unreflektierten Anpassungsmentalität in unserer westlichen Kultur sind langfristig viel größer als ihr vermeintlicher Nutzen. Die Anpassungsmentalität zerstört lebendigen Menschen machen kann. Die Folge ist, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als vorgekautes Leben aus der Konserve zu konsumieren (Filme, Erlebnisparks, Shows etc.), wobei jedes Risiko und jeder überraschende Ausgang ausgeschaltet sind. Aber echtes Leben ist Risiko und nicht bloßes Funktionieren.

      Wenn es uns nicht gelingt, unseren persönlichen Überzeugungen entsprechend zu leben, dann wird der Zwiespalt zwischen unserem eigentlich angestrebten Tun und unserem tatsächlichen Handeln immer größer, und unser Selbstwertgefühl geht immer mehr bergab.

      Das Unbehagen, das mich bisweilen in der Begegnung mit Menschen beschleicht, ist das Gefühl, dass ich mit Rollenträgern kommuniziere. Ihre eigentliche Persönlichkeit verbergen sie oder kennen sie selbst nicht mehr, weil sie diese zu oft verleugnet haben. Ich fühle mich durch diese Menschen gelangweilt, sie vermitteln nichts Lebendiges. Denn nur Echtheit bewirkt Leben. Diese Menschen machen einsam, denn sie ersticken den Wunsch nach Anteilnahme, etwas, was wir zum Leben so dringend brauchen. Sind wir uns bewusst, wie hoch der Preis ist, wenn wir das Kostbarste, das wir haben, unsere unverwechselbare Persönlichkeit, so unreflektiert aufgeben?

      Wie erfrischend war demgegenüber vor einiger Zeit die Begegnung in der Vorortbahn mit einem Kind. Es durchbrach den resignierten Schein auf vielen düsteren, schweigend vor sich hin starrenden Gesichtern für einen Augenblick und bewirkte ein Lächeln. Das Kind fragte seine Mutter: »Mama, warum hat dieser Mann da drüben eine so spitze Nase mit einem roten Pickel obendrauf?« Es ist selten, dass man durch derart geöffnete Fenster für einen Augenblick in die Seele eines Menschen hineinschauen kann. Manchmal geschieht das durch ein schamvolles Erröten oder durch einen »Freud’schen« Versprecher oder durch eine schnell weggewischte Träne. Diese geöffneten Fenster lassen uns mehr pures Leben erkennen als viel Gescheites, Intelligentes und scheinbar Nützliches unserer modernen Gesellschaft, das manchmal nur dazu geeignet ist, die Knochen jeglicher Spontaneität und lebensfroher Unbefangenheit so lange zu brechen, bis sie in den tristen Sarg von organisierten Prozessen passen, die alles nur auf eine utilitaristische Daseinsberechtigung reduzieren.

      In den vergangenen Jahren bin ich einigen Menschen begegnet, die im Druck des Berufslebens leichtfertig, ursprünglich auf Langfristigkeit ausgelegte Träume gegen kurzfristigen Erfolg eintauschen. Sie handeln genau so, wie Erich Kästner es formuliert hat: »Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun?«

      Ich suche immer nach dem Wort hinter dem Wort, nach der Sprache hinter der Sprache. Die Rolle ist wichtiger geworden als das Leben, das nur erhalten bleibt und erneuert wird, wenn Menschen den Mut haben, authentisch zu sein.

      Ich werde nicht vergessen, was mir der ehemalige Personalvorstand eines großen Automobilkonzerns rückblickend sagte, als ich ihn fragte, ob es etwas gibt, was er anders machen würde, wenn er noch mal anfangen könnte. »Wenn ich noch einmal leben dürfte, würde ich alle wichtigen geschäftlichen Entscheidungen, die ich selbstständig und in Übereinstimmung mit meinem Gewissen und meiner persönlichen Verantwortung fällen konnte, heute noch einmal so fällen. Von anderen geschäftlichen Entscheidungen jedoch, die ich als Kompromisse fällen musste, wo sich oft mein anfängliches Unbehagen später bestätigt hat, würde ich mich aus heutiger Sicht ohne Rücksicht auf Verluste klar distanzieren.«24

       Der andere

      Was siehst du im Spiegel?

      Bist du es noch?

      Oder bist du schon lange ein anderer?

      Schau hin

      Dann siehst du

      Wie dich der andere frech angrinst

      Dich auslacht

      Und es genießt

      Dass du seine Fratze nicht erträgst.25

       Gelebter Mut und Zivilcourage sind die Fähigkeiten, authentisch zu bleiben auch unter Druck.

      In der Begegnung mit Führungskräften bedauern viele rückblickend am Ende ihrer Karriere, nicht mutiger zu ihrer Meinung gestanden und nicht mehr von ihrer Authentizität verteidigt zu haben. Viele sprechen von Flexibilität und denken über ihre eigene Machtentfaltung nach und rechtfertigen damit nur ihre Lebenseinstellung von Feigheit, Charakterlosigkeit und Opportunismus. Prof. Eberhard Richter sagt, Flexibilität heißt im ursprünglichen Sinne, sich beugen, sich krümmen!26

      Wie sind wir uns selbst fremd geworden? Wie oft haben wir uns dem Mechanismus der Arbeitswelt angepasst, wo wir für unsere Erfolge und unser Haben respektiert und belohnt wurden? Dies bezahlten wir mit dem Preis, dass wir Kontakte zu Menschen nicht mehr wahrnehmen, die uns so lieben, wie wir sind, und die sich wünschten, dass wir geblieben wären, wie wir waren. Wir sollten uns selbst darüber betrauern, dass wir uns so sehr abhängig gemacht haben vom Schein des Erfolges, dass wir sogar unsere persönliche Würde und unsere Einzigartigkeit für unser berufliches Vorwärtskommen opferten.

      Lassen Sie mich noch ein eher unbedeutendes alltägliches Beispiel anführen.

      Eine junge, hochbegabte Managerin, die eine schmerzvolle Scheidung hinter sich hatte, durchlief ein Eignungsdiagnostikprogramm in unserem Institut mit Bestnoten. Sie wurde kurz vorher wegen ihrer angeblich demotivierenden Ausstrahlung entlassen, welche sich aber eindeutig auf ihr Trennungserlebnis zurückführen ließ. In einem Brief an ihren Vorstand versuchte ich diesen Sachverhalt zu beschreiben und wies auf die exzellenten Testergebnisse hin mit der Bitte, die Entlassung zu überdenken. Dieser Brief, von einem in seinen Augen so unbedeutenden Menschen wie mich, rief höchste Empörung hervor. Ich erhielt sehr besorgte Anrufe von Mitarbeitern, die sich normalerweise für Mobbingopfer einsetzen. Sie fragten mich, ob ich mir bewusst sei, welchen Schaden ich für die Reputation meiner Person ausgelöst habe. Ich antwortete, dass ich bisher geglaubt hätte, dass ihr Kampf gegen Mobbing unabhängig von der Hierarchiestufe des Täters sei, und ich erwarte, dass sie diese Haltung gerade in dieser Situation unter Beweis stellen. Daraufhin bewiesen sie den Mut der Rückendeckung, auch wenn wir die Entlassung dadurch leider nicht mehr rückgängig machen konnten.

      In seiner jahrzehntelangen Machtherrschaft über ein Viertel der Weltbevölkerung war Mao Tse-Tung für den Tod von 70 Millionen Chinesen verantwortlich. 1958 schloss sich ihm Liu Shao-Chi, die Nummer zwei im Staat, an, der ein Jahr später, 1959, zum Staatspräsidenten neben Mao ernannt wurde.

      Anders als bei Mao setzte die durch die Misswirtschaft herbeigeführte Hungersnot Liu Shao-Chi persönlich sehr zu. Als er eines Tages sein Heimatdorf in Hunan besuchte, wurde er hautnah mit dem Elend durch die Begegnung mit seiner eigenen Familie konfrontiert. Auf einem Spaziergang durch das Dorf entdeckte er auf einer Mauer die Aufschrift: »Nieder mit Liu Shao-Chi«. Er spürte, wie die Menschen den Kommunismus hassten – und ihn auch! Den Jungen, der die Mauer beschrieb, nahm Liu persönlich in Schutz. Liu zeigte Verständnis für den kleinen Jungen, der durch die Hungersnot sechs Familienmitglieder verlor und dessen Babybruder im seinem Arm verstarb, als er ohne